Geschichte, Gedächtnis und Erinnerung Ein Überblick
Erinnerungen verblassen, das Gedächtnis lässt einen im Stich, Geschichte wird vergessen. Obwohl in der Alltagkommunikation selten bewusst zwischen den Begriffen „Geschichte“, „Gedächtnis“ und „Erinnerung“ unterschieden wird, zeigen diese Redewendungen schon Wesentliches auf, was bei der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Erinnerungskultur und ihrem Gegenstand zu beachten ist, damit es nicht zur Verwechslung unterschiedlicher Prozesse mit unterschiedlichen Funktionen kommt. Die folgende Darstellung ist als ein kurzgefasster, unvollständiger Überblick zu diesem Thema zu lesen.
Geschichte
Als Geschichte wird in den Geisteswissenschaften üblicherweise ein Wissensbestand über faktisches Geschehen der Vergangenheit, das für die Entwicklung der Menschheit als von Belang angesehen wird, verstanden. Einzelne Wissensbestande können für die Gesellschaft an Bedeutung verlieren, unbeachtet bleiben und so in Vergessenheit geraten – oder auch nach größerem zeitlichem Abstand neu und anders wieder erarbeitet werden. Geschichte in diesem Sinne ist immer eine nachträgliche (Re)Konstruktion von Zusammenhängen und Deutungen bestimmter Ausschnitte der Vergangenheit anhand historischer Quelle, unter Einsatz geschichtswissenschaftlicher Theorie und Methoden. Dabei ist die Geschichtswissenschaft bestrebt, eine weitgehend unabhängige Sichtweise einzunehmen und zu konkreten Fragestellungen Antworten im Rückgriff auf unterschiedliche Zeugnisse und Datensysteme zu erhalten.
Wenn im alltäglichen Sinne von den Geschichten der Vergangenheit oder von Lebensgeschichte gesprochen wird, ist ebenfalls ein Wissensbestand über vergangenes Geschehen im Blick, der nun aber in subjektiver Sicht, oft spontan zu einem Bild oder Erzählfaden mit individueller Bedeutsamkeit konstruiert wird, wobei erneute Darstellungen bzw. Erzählung üblicherweise graduelle Veränderungen aufweisen. Die Zeugnisse und Datensysteme, die hierbei zum Einsatz kommen sind meist persönliche Erinnerungsmedien und das körpereigene Gedächtnis.
Gedächtnis und Erinnerung
Gedächtnisforschung ist ein Themenfeld sowohl der naturwissenschaftlich arbeitenden Psychologie und Neurobiologie, als auch verschiedener geistes- und sozialwissenschaftlicher Disziplinen. Für die Praktische Theologie, die darauf bedacht ist, zwischen einer auf einzelne Subjekte ausgerichteten Perspektive und einer auf Kollektive ausgerichteten Sicht zu wechseln – und möglichst auch Bezüge zwischen diesen Ebenen im Blick zu behalten, ist es weiterführend, über einen gewissermaßen transdisziplinären Zugang einen breit gefächerten Überblick zu sowohl subjektiven als auch kollektiven Gedächtnissen wahrzunehmen, um sich bei spezifischen Einzelfragen zielgerichtet weiter informieren zu können.
Allen Gedächtnissen ist gemeinsam, dass hier konkrete Erfahrungs- und Erkenntniseindrücke an konkreten Orten in konkreter Struktur (Codierung) gespeichert sind. Gedächtnisse haben demnach eine Funktion für bestimmte singuläre oder kollektive Identitäten. Das schließt die geschichtswissenschaftlich angestrebte Objektivität[1] aus. Mal bewusst, mal unbewusst greifen Subjekte und Kollektive in so ziemlichen allen Belangen des Lebens auf Gedächtnisse zurück, beispielsweise um Handlungsentscheidungen zu treffen, um sich in der Welt zu orientieren oder um sich in bestimmte emotionale Zustände zu versetzen.
Endogramm und Exogramm
Jedes Subjekt verfügt einerseits über ein körpereigenes Gedächtnis, das Erfahrungen und Erkenntnisse als sogenannte Engramme im neuronalen System des Organismus speichert. Andererseits verfügen Subjekte zugleich über die Fähigkeit, Gedächtnisspuren als sogenannte Exogramme auszulagern, beispielsweise durch ein Kreuz im Kalender, ein Foto oder einen Brief. Über einen individuellen oder auch kulturell geteilten Code werden dabei Dingen Bedeutungen zugeschrieben, die zu anderen Zeiten und oft auch durch andere Personen entschlüsselt werden können. Es ist möglich Exogramme als komplexen Speichermedien zu entwickeln. Individuen operieren nun beim Sich-Erinnern – je nach dem augenblicklichen Bedarf – mit unterschiedlichen Gedächtnissegmenten engrammatischer und exogrammatischer Anlage. Dabei können Neuorganisationen vorgenommen und abgespeichert werden. Der Gedächtnisforscher Harald Welzer (2010, S.4), vergleicht diese Operationsweise mit der eines Interfaces.
Fluidität des Gedächtnisses
Beim Gebrauch von Gedächtnissen werden – durch die aktuale Situation hervorgerufen – meist unbewusst neue Bedeutungen mit abgespeichert, so dass diese konkreten Gedächtnisspuren zu konkreten Ereignissen oder Erkenntnissen sich im Laufe der Zeit verändern. Erinnerungen sind dann Prozesse, bei denen Gedächtnisinhalte entschlüsselt im Bewusstsein präsent werden. Insbesondere mit neuen starken Emotionen verbundenes Erinnern führt leicht dazu, dass diese Emotionen mit dem Gedächtnisinhalt verknüpft abgespeichert werden und bei weiteren Aktivierungen dieser Gedächtniselemente die Erinnerungen entsprechend verändert sind. So können beispielsweise Gerüche oder Klänge im körpereigenen Gedächtnis mit Szenen verbunden werden, die damit bei ihrem ursprünglichen Erleben nicht in Berührung standen. Außerdem werden im Prozess des Sich-Erinnerns üblicherweise einzelne Gedächtnisinhalte in eine sinnhafte Beziehungsfolge transferiert, die wahrgenommen und mit den betreffenden Inhalten im Gedächtnis verknüpft werden kann. Diese Fähigkeit ist eine Grundvoraussetzung für das Anlegen eines sogenannten semantischen Gedächtnisses, das heißt, einer Gedächtnisebene, bei der bestimmten Inhalten bzw. Eindrücken bestimmte Bedeutungen zugeordnet sind.
Das körpereigene Gedächtnis
In der Psychologie (vgl. Gruber 2017) werden mit Blick auf das körpereigene Gedächtnis insbesondere Systeme zur vorübergehenden Speicherung (Kurzzeitgedächtnis und sensorisches Gedächtnis) von den auf Dauerhaftigkeit ausgerichteten Systemen des Langzeitgedächtnisses unterschieden. Letzteres ist hier von besonderem Interesse. Innerhalb des Langzeitgedächtnisses ist wiederum eine Unterscheidung zwischen dem deklarativen Gedächtnis, über das gesprochen werden kann, und dem nicht-deklarativen Gedächtnis, auf das unbewusst „zurückgegriffen“ wird, aufschlussreich. Im nicht-deklarativen Gedächtnis sind unter anderem automatisierte Handlungsabläufe, die motorisches Geschick ermöglichen, gespeichert, aber auch wiederkehrende Abläufe im täglichen sozialen Miteinander. Die Effektivität dieses Gedächtnisses fällt oft erst auf, wenn man Gewohnheiten ändern will oder etwa im Trauerfall ändern muss, da eine zentrale Bezugsperson nicht mehr da ist und so auch unbewusste Handlungsmuster quasi ins Leere laufen, den Lebensrhythmus dieses Menschen aus dem Gleichgewicht bringen. Innerhalb des deklarativen Gedächtnisses wird zwischen dem schon angesprochenen semantischen Gedächtnis und dem episodischen Gedächtnis unterschieden. Das episodische Gedächtnis speichert aus der subjektiven Perspektive Erfahrungseindrücke. Bei wiederkehrenden Erfahrungen oder besonders intensivem Erleben können diesen Eindrücken besondere Bedeutungen beispielsweise für das eigene Selbstbild zugeschrieben werden, so dass diese Sequenzen aus dem episodischen ins semantische Gedächtnis übergehen, wo auch Weltwissen und Sprache verortet sind.
Das kollektive Gedächtnis
Die Bildung von subjektiven Gedächtnissystemen geschieht immer in sozialen Beziehungen und in Auseinandersetzung mit Elementen des kollektiven Gedächtnisses. So hat schon Maurice Halbwachs (1877-1945) herausgearbeitet, dass individuelle Erinnerungen zu sozialen Voraussetzungen und Konzepten in Abhängigkeit stehen. Vergewisserungen über Geschehnisse der Vergangenheit oder gemeinsame Hoffnungen für die Zukunft werden in Gemeinschaften oft mündlich (mit)geteilt und haben so Anteil an der Konstruktion von bestimmten Identitäten. Mit der Erfindung der Schrift hat sich die Möglichkeit, kollektiv nutzbare Speichermedien für Gedächtnisinhalte herzustellen, effektiv verändert und natürlich ist auch die moderne Möglichkeit digitaler Speicherung und Kommunikation von großem Einfluss auf die Praktiken, wie Menschen sich erinnern und woran sie sich erinnern.
In Bezug auf das kollektive Gedächtnis hat sich die von Jan und Aleida Assmann erarbeitete Unterscheidung eines kommunikativen und eines kulturellen Gedächtnisses als besonders tragfähig und weiterführend erwiesen. Das kommunikative Gedächtnis umfasst einen zeitlichen Horizont von etwa 80-100 Jahren. Hier sind Erfahrungen beinhaltet, die individuelle Biografien betreffen und zumeist mündlich (Oral History) weitergegeben werden. Erinnerungen, die auf dem kommunikativen Gedächtnis basieren, werden oft in Alltagssituationen ausgetauscht. Inhalte des kulturellen Gedächtnisses haben ihren Ursprung dagegen in einer Vorzeit bzw. Nicht-Gegenwart, zu der es keinen Bezug über noch lebende Personen gibt. Sie kann Jahrhunderte oder Jahrtausende zurückliegen oder gänzlich in einer unbestimmten Urzeit verortet werden. Weitergegeben werden Inhalte des kulturellen Gedächtnisses zumeist in relativ gleichbleibender Form zu speziellen Anlässen bei Riten oder traditionellen Festen. Anders als beim kommunikativen Gedächtnis sind spezialisierte Traditionsträger für die Weitergabe des Gedächtnisses in der korrekten Formung verantwortlich.
Eine weitere, von Aleida Assmann entwickelte Unterscheidung innerhalb des kulturellen Gedächtnisses in ein Speichergedächtnis und ein Funktionsgedächtnis lässt verschiedene Bedeutungsebenen für die Gesellschaft deutlich werden. Inhalte des Funktionsgedächtnisses haben sich als bedeutsames Wissen für die Gegenwart erwiese, auf die zielgerichtet zugegriffen wird. Diese Inhalte werden als Grundlagen für das Eigene und somit als Verbindungsglieder zwischen Gestern und Heute angesehen und finden oft in rituellen Formen Ausdruck. Bei Inhalten des Speichergedächtnisses ist ein Gegenwartsbezug nicht allgemein ersichtlich. Sie werden oft in Museen oder wissenschaftlichen Einrichtungen organisiert und bewahrt. Von besonderer Bedeutung ist der Umstand, dass eine Durchlässigkeit dieser Ebenen des kulturellen Gedächtnisses füreinander besteht und Inhalte gewissermaßen ihren Ort und ihre Relevanz für die Gesellschaft der Gegenwart wechseln können.
Antje Martina Mickan
Literaturhinweise
Assmann (1992), Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München.
Assmann (42009), Aleida: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München.
Erll (22011), Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung, Stuttgart.
Gruber (22018), Thomas: Gedächtnis, Wiesbaden
Gudehus, Christian; Eichenberg, Ariane und Welzer (Hg.; 2010), Harald: Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart
Welzer (2010), Harald: Erinnerung und Gedächtnis. Desiderate und Perspektiven. In: Gudehus, Christian / Eichenberg, Ariane / Welzer, Harald (Hg.): Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart, S. 1-10.
[1] Da auch Historikerinnen und Historiker nur unter Einsatz ihrer eigenen Sicht Theorien erarbeiten können, ist absolute Objektivität auch hier nicht zu erreichen.