Beispiele zeitgenössischer Erinnerungskunst
Zu den Pionieren einer neuen performativen Kunstrichtung im Deutschland seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zählt sicher Günther Uecker. Er trägt überdies mit seinen Arbeiten zur hiesigen Erinnerungskultur bei. Die 14 Exponate der Ausstellung „Der geschundene Mensch – 14 befriedete Gerätschaften“ vom 3. Juli bis 11. September 2016 in der Rostocker Kunsthalle entstanden schon mehr als 20 Jahre früher.[42] Dies geschah aus Anlass fremdenfeindlicher Ereignisse 1992 in Rostock-Lichtenhagen, die sich in dieser Zeit aber auch bundesweit in ähnlicher Form abspielten.[43]
An den Wänden auf Plakaten in Tusche geschriebene „Verletzungswörter“ wie z.B. „hauen“, „anzeigen“, „knebeln“, „treiben“, „spotten“, „fetzen“ – fast ausschließlich biblischen Ursprungs – bestimmen die Interpretation dessen, was thematisiert wird. Sie lenken beim Betrachten der aus dem ländlichen Arbeitsalltag entlehnten Formen den Blick auf damit zusammenhängende Aspekte des für Mensch, Tier oder Erdboden Gewaltsamen und sie bieten gleichzeitig Positionen der Identifikation mit leidenden Menschen an. Nur beim genauen Beobachten fallen drei Nicht-Verletzungswörter auf: „trösten“, „verbinden“ und „erbarmen“. Über die Größe der Exponate und ihre Positionierung zueinander werden Besucherinnen und Besucher quasi in eine andere Welt hineingenommen, in der vieles bedrohlich bedrückend erscheint oder zumindest ungewohnte Perspektiven bestimmend sind. Man kann von einem emotional intensiv wirksamen Immersionsraum sprechen,[44] den der Künstler selbst in der Rostocker Kunsthalle eingerichtet hat.
Wie Uecker in einem zur Ausstellung gehörigen Video selbst erklärt, bedeutet das – für die Ausstellungsgäste sichtbar geschehene – Überstreichen der Objekte mit weißer Farbe für ihn eine Befriedung, die letztlich das Ziel seiner Kunst darstellt. Indem er den Wunsch der Befriedung im Zusammenhang der Ausstellung expliziert und dieselbe nach der ersten Schau in Rostock durch über 40 Länder der Erde reist, gelingt es Uecker ein menschheitsverbindendes Zeichen zu setzen. Und durch die Kette von Veranstaltungen mit dazugehörigen Gedächtnissen gelingt es ihm außerdem, performativ an der Schaffung einer befriedeten Wirklichkeit – und sei dies nur für kurze punktuelle Momente – teilzuhaben. Das Besondere und vielleicht auch Neue an Ueckers Ausstellung betrifft seinen Weg, Menschen mit Menschheitsthemen zu konfrontieren. Neben einer ethischen und einer durch Kunst bestimmten Dimension der Veranstaltung ist hier auch eine religiöse Dimension wahrnehmbar. Und indem die Rostocker Kunsthalle in einer Parallelausstellung über Lichtenhagen damals und heute Berichte präsentiert, ist das regionale soziale Gedächtnis reflexiv aktiviert und in ein menschheitliches Thema eingebunden.
Die Schaffung von Immersionsräumen, in die eine Art Eintauchen möglich ist, wird auch auf Friedhöfen unter anderem durch große Plastiken erreicht. Funerale Kunst hat heute nicht selten eher eine emotionale Funktion, die den Menschen in die Lage versetzt, die subjektive Erinnerung frei fließen zu lassen oder mit dem Erinnerten in Resonanz zu treten, statt selbst an einen konkreten Inhalt zu erinnern. Auf dem privaten Friedhof des Bestattungshauses Pütz-Roth in der Nähe von Köln sind außerdem viele natürliche Materialien im Stil der Land-art verwendet worden.[45] Der Tod erscheint an diesem Ort als natürlich und nicht beängstigend erlebbar.
[46]Groß sind die Objekte der Erinnerungskunst auch in der Künstlernekropole am Blauen See im Habichtswald bei Kassel. Es war die Idee des documenta-Künstlers Harry Kramer, dass ausgewählte, ebenfalls an der Documenta beteiligte Kolleginnen und Kollegen hier ihr eigenes Grabmal erschaffen sollten und sich verpflichten, dass ihre Asche nach ihrem Ableben dort auch in einer Urne beigesetzt wird. Wald, Park und Friedhof gehen an diesem Ort ineinander über. Die Ausmaße der bisher geschaffenen acht Grab-Kunst-Objekte sind eher angelehnt an antike Skulpturen und vor allem die barocke Gartenarchitektur des zum Weltkulturerbe gehörenden Bergparks Wilhelmshöhe. Sie variieren das Thema der Sterblichkeit und des Lebensflusses in ganz unterschiedlicher Weise, kaum aber durch detailhafte Erinnerungen an die Kunstschaffenden selbst, wenn man einmal von der charakteristischen Formensprache, vom jeweiligen künstlerischen Stil absieht. Im Habichtswald ist allein der Name des inzwischen verstorbenen Oskar Blase an seiner Künstler-Grabanlage zu lesen. Harry Kramer selbst veranlasste die anonyme Beisetzung seiner Urne ohne Grabmal in der Nekropole.
Schluss
Neben diesen modernen Spielarten der Kunst existiert ein Bildverständnis der Repräsentanz des Abgebildeten aber in der gesellschaftlichen Vorstellung weiter und wird zunehmend auch wieder wissenschaftlich beachtet, insbesondere innerhalb der Soziologie. Die Kultursoziologin Aida Bosch beispielsweise setzt sich für eine differenziertere Wahrnehmung des Fetischismus in modernen Gesellschaften ein und verweist auf die Funktion der besonderen Dinge in kultureller Praxis, aber auch bei der psychosozialen Identitätsausbildung.[47] In einem hohen Maße werden dabei auch eigentlich alltägliche Dinge als Erinnerungsmedien mit Bedeutung aufgeladen.[48] Gerade im Kontext von Trauer und Abschied können Rituale, in denen Künstlerisches und ehemals alltägliches persönliches Zeug aufeinander bezogen und verbunden wird, den Hinterbliebenen tröstliche Umdeutungen zur Existenz der Verstorbenen, sei es an einem transzendenten jenseitigen Ort oder in der subjektiven Erinnerung, ermöglichen.
Antje Martina Mickan
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