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Bilder und Bild­liches als Erinnerungs­medien

Wird die Funktion von Bildern als Erinnerungs­medien vor dem Hintergrund von Trauer­prozessen thema­tisiert, ist an erster Stelle hervorzu­heben, dass Bilder bei der Wahr­nehmung eine vor­begriffliche Bewusst­seins­ebene „ansprechen“. Sie erreichen unmittel­bar mit der ihr eigenen Materialität auch unbe­wusste Areale des mensch­lichen Sinnes- und Gedächtnis­systems. Andre Bartoniczek betont daher das Potential, über Bilder beim Erinnern viel tiefer in zeitlich früh ange­legte Gedächtnis­schichten gelangen zu können, als dies mit manch rationaler Erklärung möglich ist.[28] Dabei zeichnen sich Bilder jedoch grund­sätzlich durch Präsenz aus. Sie selbst sind einge­fangene Momente oder festge­haltene Form und stehen damit in Spannung zur stets räum­lichen und zeit­lichen Erinnerung. Aber gerade auf­grund ihrer Präsenz sind sie das äußere Gedächtnis­medium par excellence oder, anders gesagt, so etwas wie die Urform eines kulturellen Gedächtnis­mediums.[29]

Dank archä­ologischer Forschung weiß man heute, dass vor mehr als 30-Tausend Jahren ent­standene Tier­zeichnungen (Auer­ochsen, Pferde­köpfen und Woll­nas­hörner) in der Grotte von Chauvet (vgl. Abb. 4) nicht spontane Malereien nach direkter Anschau­ung sind.[30] Denn diese unzu­gängliche Höhle wird auch damals von den Menschen nur in Sonder­situationen aufge­sucht worden sein. Es handelt sich also um verinner­lichte Wahr­nehmungen, die eine äußere Gestalt erhalten haben. Der flüchtige Sinnes­eindruck wurde zu einer Bewusst­seins­struktur ver­festigt und einzelne Bewegungs­abläufe der Tiere so treffend ver­äußerlicht, dass Gerhard Bosinski meint, man hätte sie mit den technischen Möglich­keiten des 19. Jahrhunderts auch nicht besser festhalten können.[31] Diesen Abbildungen von nicht Anwesen­dem sind Unikate, denen eine eigene Identität zuerkannt werden kann.

Das Bild als Repräsen­tanz dessen, was es darstellt, hat im Toten­kult unter­schied­licher Völker quasi seine kultur­geschicht­liche Ur-Form.[32] Wie insbesondere Jan Assmann heraus­arbeitete, besteht zwischen Mumi­fizierung (also Toten­kult) und Bildent­stehung in der altägyp­tischen Kultur eine enge Beziehung.[33] Im altmeso­potamischen Gilga­mesch-Epos wird berichtet wie König Gilga­mesch zur Über­windung der Trauer um seinen verstor­benen Freund Enkidu ein Bildnis von ihm errichten lässt, damit dieser durch die Präsenz seiner Erscheinung gewisser­maßen weiter­lebe.[34] Und auch die Gründungs­legende der antiken griechischen Gedächt­nis­kunst nimmt ihren Ur­sprung bei einem Unglück mit Todes­folge: Simonides von Keos wird Augen­zeuge eines Erdbeben­unglücks. Die Erschüt­terung zerstört einen Bankett­saal und zer­schlägt die An­wesenden bis zur Unkennt­lichkeit. Aus dem Gedächtnis, dem verinner­lichten Bild also, schafft Simonides ein Marmor­reliefs mit dem Bildnis der Verstorben beim besagten Bankett samt ihrer Namen und wendet damit das Vergessen ab.[35] Renate Lachmann sieht hinter dieser Legende einen archaischen Mythos der Gedächtnis­kunst ver­borgen, der grund­legend auf den Konzepten Ort und Bild beruht.[36] Der indexi­kalische Akt des Zeigens und Benen­nens ist mit dem ikonischen, d.h. bildlichen Akt ver­bunden, der eine Ähn­lichkeit mit den Leben­den von früher deutlich macht. Beide Akte zusam­men trans­ferieren quasi die Person in die Welt der Vor­stellung und Erinnerung. Eine in der gegen­wärtigen Realität zerstörte Ordnung wird also im inneren Raum wieder­herge­stellt und hat dafür ein äußeres Zeichen. Für Lachmann ist das Konzept der klassisch antiken Gedächtnis­kunst mit den beiden Funkti­onen des Geden­kens: (1.) der Ver­gegen­wärtigung des Ver­gangenen und (2.) des Merkens von Wissen, hier auf den Punkt gebracht, wenn­gleich die Memorier­technik erst in späterer Zeit, insbe­sondere von Cicero im Zusammen­hang mit der Entwicklung seiner Rhetorik ausge­arbeitet wurde. In dreien dieser von Cicero über­lieferten Texte wird auch die Legende um Simonides von Keos erzählt.[37]

Für Theologinnen und Theologen unübersehbar ist die große Nähe des Prinzips der Gedächt­nis­kunst zu ihrem Religions­hand­werk mit dem zeichen­haften Reden von einer trans­zenden­ten, in der gegen­wärtigen Realität unfass­baren gött­lichen Wirklich­keit. Auch hier ist die Verinner­lichung von Konzepten und Vorstellungs­bildern wesent­lich. Und werfen wir von der Antike über das christliche Mittel­alter hinweg einen Blick auf die Zeit der Renaissance und Reformation in Deutsch­land, sind Korres­ponden­zen zwischen einer­seits der Verän­derung des Bild­verständ­nisses wie auch des Bild­ge­brauchs  und andererseits der Religions­ent­wicklung auf­fällig.[38] – Aber, ob­wohl im mittel­alter­lichen Europa das domi­nierende Welt­bild ein christ­liches war, sich dies auch ästhetisch aus­drückte und andere Sicht­weisen erst mit der Auf­klärung möglich wurden, soll mit dem Hin­weis auf gewisse Ana­logien zwischen dem Gebrauch von Bildern als Erinnerungs­medien im Wandel der Zeit und dem religions­kulturel­len Wandel hier nicht gesagt sein, dass eine Ästhetik der Erinnerung und Religions­ästhetik im Grund identisch wären. Andererseits ist jedoch die christ­liche Religion ohne Erinnerungs­ästhetik nicht denkbar und so in ihrer Entwicklung durch das neue Sehen in der Renaissance, auf das hier an­schließend einzu­gehen ist, ganz sicher beein­flusst.

Bereits im 11. Jahr­hundert beginnt ein Prozess, in dem selbst die christ­lichen Erinnerungs­bilder, die Ikonen, nicht mehr nur als Repräsen­tation des Darge­stellten ver­standen werden, sondern selbst zum Gegen­stand der Anschau­ung werden.[39] Die menschliche Konstruktions­leistung bei der Her­stellung von Bildern ebenso wie beim An­schauen der Bilder erfährt eine immer größere Aufmerk­samkeit in den gelehrten Diskursen der Renaissance. Es beginnt sich eine eigene Wissen­schaft der Welt­wahr­nehmung und Welt­darstellung herauszu­bilden, was wiederum die Ent­stehung von Kunst, wie wir sie heute kennen, Stück für Stück ermöglicht.[40] Nun ist es nicht mehr die Dignität des Darge­stellten, welche die Qualität des Bildes ausmacht, sondern der Künstler mit seiner Fähigkeit, die Welt zu erkennen und diese Erkenntnis so in ein Werk umzusetzen, dass es für die Rezipien­tinnen und Rezipien­ten zu einem Wirklich­keits-Spiegel wird. Der Kunst­begriff der Gegen­wart ist geschicht­lich aber erst seit Mitte des 18. Jahr­hunderts greif­bar.[41]

Heute gehört zum Ver­ständ­nis wissen­schaft­lich fun­dierter Kunst das Konzept einer Rezeption als poten­tiell unendlich fort­setz­bare Kette der Assozi­ationen zum Werk und seiner Bedeutung hinzu. An zeitge­nössischer Kunst­praxis teil­zu­haben bedeutet für Rezi­pierende oft also weniger, die Inten­sion der Malerin oder des Bild­hauers zu ergründen, sondern sich selbst zu fragen, zu welchen Gedanken das Werk Impulse gibt, welche neue Per­spektive auf Welt und Wirk­lichkeit dadurch möglich ist oder was es an ver­deckten Tat­sachen zum Erschei­nen bringt. Und so ist viel­fach weder Schön­heit, noch das mehr oder weniger augen­schein­liche kunst­hand­werkliche Geschick das domi­nante Leit­kriterium für den künst­lerischen An­spruch und Wert des Werkes.

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Fußnoten

[28] Vgl. A. Bartoniczek: „Bilder“, S. 211.

[29] Vgl. Lachmann, Renate: „Gedächtniskünste“, in: C. Gudehus/A. Eichenberg/H. Welzer (Hg.): Gedächtnis, S. 136-142; Stoellger, Philipp: „Kulissenkunst des Todes. Zum Ursprung des Bildes aus dem Tod“, in: Klie, Thomas (Hg.): Performanzen des Todes, Stuttgart 2008, S. 15-43.

[30] Vgl. Wildgen, Wolfgang: Visuelle Semiotik. Die Entfaltung des Sichtbaren. Vom Höhlenbild zur modernen Stadt, Bielefeld 2013, S. 47-56.

[31] Vgl. Bosinski, Gerhard: „Das Bild in der Altsteinzeit“, in: Sachs-Hombach, Klaus (Hg.): Bildtheorien. Anthropologie und kulturelle Grundlagen des Visualistic Turn, Frankfurt a.M. 2009, S. 31-73.

[32] Vgl. Belting, Hans: „Aus dem Schatten des Todes. Bild und Körper in den Anfängen“, in: Barloewen, Constantin von (Hg.): Der Tod in den Weltkulturen und Weltreligionen, München 1996, S. 92-136.

[33] Vgl. Assmann, Jan: „Ägyptische Bildpraxen und ihre impliziten Theorien“, in: K. Sachs-Hombach (Hg.): Bildtheorien, S. 74-103.

[34] Vgl. Thalgott, Monica: „Die Suche nach dem Leben. Tod und Unsterblichkeit im Gilgamesch-Epos“, in: Negele, Manfred (Hg.): Liebe, Tod, Unsterblichkeit. Urerfahrungen der Menschlichkeit im Gilgamesch-Epos, Würzburg S. 107-122; Mickan, Antje: „Konstruktionen des Weiterlebens. Postmortalitätsvorstellungen in Vergangenheit und Gegenwart“, in: Benkel, Thorsten/Meitzler, Matthias (Hg.): Zwischen Leben und Tod. Sozialwissenschaftliche Grenzgänge, Wiesbaden 2019, S. 227-242 (hier bes. 230f.).

[35] Vgl. Goldmann, Stefan: „Statt Totenklage Gedächtnis. Zur Erfindung der Mnemotechnik durch Simonides von Keos“, in: Poetica 21, 1-2 (1989), S. 43-66.

[36] Vgl. R. Lachmann: „Gedächtniskünste“, S. 136.

[37] Vgl. R. Lachmann: „Gedächtniskünste“, S. 136f.

[38] Vgl. u.a. A. Bartoniczek: „Bilder“, S. 204f.; Held, Jutta/Schneider, Norbert: Grundzüge der Kunstwissenschaft. Gegenstandsbereiche – Institutionen – Problemfelder, Köln 2007, S. 21-44; Schwebel, Horst: Die Kunst und das Christentum. Geschichte eines Konflikts, München 2002, S. 16-75; Belting, Hans: Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst, München 72011.

[39] Vgl. H. Belting: Bild, S. 292-330.

[40] Vgl. Belting, Hans: Spiegel der Welt. Die Erfindung des Gemäldes in den Niederlanden, München 22013, S. 105-124.

[41] Vgl. J. Held/N. Schneider: Kunstwissenschaft, S. 37-41.

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