
Fluides Gedächtnis im Kontext „Trauerfeier“
Kehren wir zurück zum Thema der Erinnerung mit Bezug zum funeralen Kontext, dann lässt sich Ähnliches mit Blick auf die Bedeutung von Trauerfeiern feststellen, gerade wenn sie in einem ungewöhnlichen Ambiente stattfinden und in neuer Weise mit kulturell bedeutsamen Zeichen operieren. Natürlich würde das Gedächtnis an den verstorbenen Vater verändert sein, nachdem die Familie sich seiner beispielsweise beim Anblick der Asche oder zumindest Urne im Sekretär eines weltberühmten Schriftstellers erinnert hat,[22] wie es im neuen Lübecker Kolumbarium DIE EICHE zumindest im Planungsvorlauf denkbar erschien.[23] Ob diese Veränderung positive oder negative Aspekte mit sich bringt, ist freilich offen und individuell unterschiedlich.
Ohnehin ist davon auszugehen, dass ausschnittweise Inhalte des Gedächtnisses, also von Momenten oder kürzeren Begebenheiten, in der Rückschau neu in einen Sinnzusammenhang eingeordnet werden können. Intensiviert ist eine solche semantische Neuordnung, wenn die Erinnerung in Zusammenhang mit rituellen, sinnhaften Handlungen steht. Man spricht in diesem Fall vom Übergang von Inhalten aus einem episodischen in ein semantisches Gedächtnis, das für die Herausbildung einer Vorstellung von Identität elementar ist.[24]
Über Bilder und andere künstlerische Formen – in herausragender Weise durch emotionalisierende Musik[25] – kann dieser Prozess der Gedächtnisneukonstitution in ganz eigener Weise angestoßen werden. Wieder sind dann Bezüge auf körpereigene und äußere Gedächtnisse kaum trennbar miteinander verbunden. Denn auch das, was z.B. ein Standbild bedeutet, hängt von den aktual damit verbundenen Narrationen und gesellschaftlichen Diskursen ab, die aber intersubjektiv geführt werden. Zu Rech entscheidet daher Astrid Erll in Bezug auf eine potentielle Zugehörigkeit zum kollektiven Gedächtnis nicht aufgrund der Art des Gedächtnismediums, sondern aufgrund der überindividuellen, gesellschaftlichen Relevanz des Inhaltes.[26]
Bevor wir zu weiteren Beispielen zeitgenössischer Erinnerungskunst kommen, wird der anschließende Abschnitt die Blickrichtung wenden und nach der Funktion von Bildern oder figürlichen Skulpturen für Gedächtnis und Erinnerung fragen.[27]