Gerhard Richters Stammheimzyklus – Fluidität des menschlichen Gedächtnisses
Neben Anselm Kiefer[10] hat sich von den international profilierten Künstlern aus Deutschland besonders auch Gerhard Richter in seiner Kunst mit dem Gedächtnis auseinandergesetzt. Von März bis November 1988 schuf er den Zyklus „18. Oktober 1977“, in dem er sich intensiv mit der linksradikalen Terrorgruppe RAF sowie dem Tag, als die Leichen von Gudrun Ensslin, Andreas Baader und Jan-Carl Raspe im Gefängnis Stuttgart-Stammheim aufgefunden wurden, befasst.[11] Der deutschen Öffentlichkeit erschienen die Bilder Ende der 1980er Jahre als skandalös, was sicher beförderte, dass sie hier inzwischen dem kollektiven Gedächtnis zugehören.[12] Laut staatlicher Seite hatte in Stammheim im Oktober 1977 ein kollektiver Selbstmord stattgefunden und die damalige massenmediale Berichterstattung trug zu einer Emotionalisierung öffentlicher Wahrnehmung bei. Richters verschwommene Fotografien weisen dagegen auf die Undurchsichtigkeit der Faktenlage hin. 1994 kommt er noch einmal auf den Stammheimer RAF-Prozess mit neuer Zuspitzung auf die Auseinandersetzung mit Gedächtnisprozessen zurück.[13]
Die aus dem Buch von Pieter Bakker Schut (einer der Rechtsanwälte der angeklagten RAF-Mitglieder)[14] über den Stammheimer Prozess herausgerissenen und unterschiedlich übermalten Seiten verdeutlichen Weisen der Überlagerung von Gedächtnisinhalten durch andere, affektiv gefärbte individuelle Erinnerungen, wie ebenso die Vervielfältigung von Erinnerung. „Sie lassen sich jedoch“, wie Kurt Wettengl zu bedenken gibt, „auch als malerische Geste verstehen, die dem Versuch der juristischen Beweisführung [von Bakker Schut], dass es sich bei den Toten von Stammheim um staatlichen Mord gehandelt habe, die Emotion der Erinnerung entgegensetzt.“[15]
Was lässt sich also in Auseinandersetzung mit diesen Arbeiten Richters in Hinblick auf das menschliche Gedächtnis verdeutlichen? Beachten wir auf dem Weg dahin zunächst einige wesentliche sozial- und kognitionspsychologische Erkenntnisse:[16] Zuerst ist festzuhalten, dass es ohne Gedächtnis keine Erinnerung gibt. Das Gedächtnis ist gewissermaßen die Sammlung, das heißt die im Körper, im Buch, im Bild oder beispielsweise auch im Museum eingeräumte Erfahrung, auf die wir beim Erinnern zurückgreifen. In der Zeit Erlebtes, Erkanntes, Gedachtes und Gefühltes erhält – vereinfacht gesagt – als spezifische Form mit Bedeutung einen Ort.[17] Dass wir mit unseren Gedächtnis-Eindrücken eine räumliche und zeitliche Dimensionen verbinden und beim Erinnern passende Bezüge nachjustieren können, ist zwar für unsere Orientierung im Leben elementar, aber keinesfalls selbstverständlich und dazu irrtumsanfällig. Denn im Gedächtnis sind Vergangenheit, Gegenwart und selbst nur in der Vorstellung existierende Zukunft nebeneinander präsent.[18] Die aktive Vergegenwärtigung vergangener und zukünftiger Ereignisse als Erinnerung aber braucht Ordnung und Narration zu dem, was gespeichert ist. Im körpereigenen Gedächtnis entsteht diese Ordnung durch neuronale Verknüpfungen, sogenannte Engramme. Zu unterscheiden sind sie von Exogrammen, die ein äußeres Gedächtnis konstituieren. Menschen greifen ständig beim Sich-Erinnern in einem kaum zu trennenden Wechsel auf körperinterne und externe Gedächtnisquellen zurück.[19] Der Ordnung im Kopf und beispielsweise an der Pinnwand mit Erinnerungsfotos aus dem Urlaub kann etwas Neues hinzugefügt oder es kann etwas umarrangiert werden, womit sich dann auch die Bedeutung der jeweiligen Beziehungsstruktur verändert. Und das passiert meist unbewusst und unfreiwillig.
In den Bildern der jüngeren Stammheim-Reihe Richters repräsentieren die Buchseiten Exogramme, die, wären sie in ihrem Zusammenhang belassen, einem Archiv vergleichbar über lange Zeit den Zugriff auf einen konstanten Inhalt ermöglichten.[20] Doch bleiben einmal gelesene Buchinhalte im körpereigenen Gedächtnis niemals unverändert. Gemeinsam mit den schon beim subjektiven Lesen sich ergebenden Verständnisunterschieden vervielfältigen sich die individuellen Gedächtnisse zu Ereignissen und Diskursen, und dies in einem umso größeren Maß, je stärker die wiederholten Erinnerungen emotional gefärbt sind. Das zeigt Richter anhand der unterschiedlichen Farbschichten, welche den Text überlagern. Sie wirken dynamisch, scheinen voranzufließen und den Inhalt allmählich zu überdecken. Teils hat er aber auch einzelne Textpassagen so bearbeitet, dass sie wie ausradiert wirken oder die Worte der Vorder- und Rückseite des Blattes gemeinsam sichtbar sind und dadurch die Lesbarkeit beeinträchtigen.
Das Gedächtnis verändert sich eben nicht nur durch das Vergessen, es „bröckelt“ nicht allein, sondern wird bei jedem Wieder-Erinnern mit den neuen gleichzeitig wahrgenommenen Eindrücken zusammen erlebt, verändert und graduell anders wieder neu abgespeichert.[21] Zumal Sachargumente sich gegenüber emotional dichten Erfahrungen üblicherweise weniger nachhaltig im Gedächtnis verankern lassen, hat die kühle juristische Argumentation, die obendrein erst Jahre nach dem Ereignis in den öffentlichen Diskurs gelangt, im kollektiven Gedächtnis schwerlich die Chance, einen so prominenten Stellenwert einzunehmen wie die gemeinsame öffentliche Aufregung über einen vermeintlichen Massenselbstmord im Hochsicherheitsgefängnis.