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Archiv der Thementexte 2020/21

Junitext 2022

Hinweis: Bei diesem Text handelt es sich um ein 'etwas wild wachsendes Gewächs', der einem subjektiven Gedankenfluss folgt und eher weniger Rücksicht auf eine übersichtlich-klare Struktur nimmt. Er entstand unter dem Eindruck eines Bibliodrama-Abend und soll hier mal so stehen bleiben.

Im zweiten Kapitel der Genesis – also soweit am Beginn der Bibel, dass eine wirklich große Menge Menschen bei ihren Versuchen, das Buch der Bücher durchzulesen, bis hierher gekommen sein sollte – findet sich eine Erzählung vom Anfang der Menschheit in einem auserlesenen, kostbaren Garten (Gen 2,4b-3,24). Die Geschichte bietet auf jeden Fall einen dramatischen Spannungsbogen und geht nicht wirklich gut aus, oder vielleicht sollte ich sagen: sie geht nicht wirklich angenehm schön aus, sondern endet mit großer Scham, einer leidvollen Transformation des menschlichen Alltags und Rauswurfs aus dem Raum der friedvollen, ewigen Erquickung. Und doch geht es eben danach mit der Menschheit erst allmählich richtig los. Gut oder nicht? Diese Frage ist für die Schöpfungserzählung zentral. Sie wird zwar nicht im Mittelpunkt dieses Essays stehen, mutet aber doch so verführerisch an, dass ich mir ein paar Gedanken dazu erlaube.

Mit der Einschätzung des Endes von Genesis 2,4b-3,24 als „nicht-gut“ wäre impliziert, dass ein Leben ohne differenzierendes Erkennen, ohne einen reflektierenden Blick auch auf sich selbst ein gutes Leben wäre. Denn, wie Sie sich sicher erinnern, spitzt sich die Lage für das erste Menschenpaar dadurch zu, dass beide von den Früchten des Baumes der Erkenntnis essen und erst dadurch zwischen Gut und Böse zu unterscheiden vermögen. Der ursprüngliche Mensch könnte sein Dasein demnach gar nicht beurteilen. Aber wir können, sollen und wollen dies heute in mannigfacher Weise tun, auch wenn es an einer gelingenden Erfüllung dieses Anspruchs leider oft mangelt. Beim zweiten Schöpfungsbericht handelt es sich um einen Ursprungsmythos (Ätiologie), der nicht die Erschaffung der Welt erklären will, sondern lebensweltliche Erfahrungen im Gewand einer Erzählung herleitet. Warum leben wir so, wie wir es erfahren, wie kam es dazu und was kann es uns bedeuten? Wie alt der schließlich kanonisierte Text Gen 2,4b-3,24 wirklich ist, ist unter Exegetinnen und Exegeten umstritten. Aber weitgehende Einigkeit besteht in der Annahme, dass er auf Erzähltraditionen zurückgreift, die vor dem 8. Jahrhundert v. Chr. entstanden sind, also von heute aus gesehen vor rund dreitausend Jahren. Es steckt – nach hier vertretener zeitgenössischer praktisch-theologischer Sicht – in dieser Erzählung eine tiefe Wahrheit, die zwischen den Buchstaben liegt und nur subjektiv zu ergründen ist. Wenn auch diese Wahrheit nicht direkt vermittelt werden kann, ist es doch möglich, Wege und Methoden des Zugangs zum Text aufzuzeigen, die sich in unserer spätmodernen Zeit als funktional für das Entdecken von Wahrheits- und Weisheitsspuren erwiesen haben. Meine Methode ist dabei vor allem eine bibliodramatische.

Es geht mir beim Aufspüren von Wahrheit nicht um moralische Lehren, die mit diesem Text verbunden, kommuniziert und geteilt werden können. Dass beispielsweise im Rahmen der zweiten Schöpfungserzählung gerade der Vers Gen 2,15: „Und Gott der HERR nahm den Menschen und setzte ihn in den Garten Eden, dass er ihn bebaute und bewahrte“[1] aus heutiger Sicht ein Menschenbild mit einem moralischen Anspruch an uns alle kommuniziert, das wir dringend nötig haben, weil es den Willen zur Bewahrung unserer Erde als gebotenes Sinnkonzept aufzeigt, sei nicht in Abrede gestellt, entspricht so aber nicht der von mir anvisierten subjektiven Wahrheit. Was hier als Wahrheit im Blick ist, ist weniger der richtige und wichtige inhaltliche Gehalt eines Textes, den man exegetisch und interpretatorisch herausarbeiten kann, sondern ein subjektives Erfahren, Wahrnehmen, Erkennen von einem sinnhaften Gehalt, einem biblischen Wort und Bild mit unmittelbarem Bezug zum eigenen Leben. Wobei es durchaus häufiger vorkommt, dass subjektive Wahrheiten, wenn Menschen sie einander mitteilen, Ähnlichkeiten zueinander und zu auch stärker objektiv von den Texten gespiegelten Inhalten zeigen.

Da in den letzten Jahrhunderten nicht nur viel Wasser den Tigris hinunter geflossen ist, sondern sich gesellschaftliches Leben hier in Deutschland in gravierenden Einzelheiten auch von dem gesellschaftlichen Leben im Umfeld der Textentstehung unterscheidet, ist es aus meiner Sicht nicht nur erlaubt, sondern sehr angemessen und den biblischen Traditionen gegenüber wertschätzend, wenn bei der Auseinandersetzung mit ihnen Einzelheiten neu ausgeformt, in Variation erzählt und erfahren werden. Statt bei der religiös betriebenen Praxis der Textrezeption als emanzipierter Mensch mit Bewusstsein für Genderfragen halbwegs in Verzweiflung zu geraten, weil dort dem Worte nach etwa die Frau (hebräisch אִשָּׁה ʾischāh) aus der Rippe des Mannes (hebräisch אִישׁ ʾisch) gefertigt wird und im Zuge der Verbannung aus Eden von Gott dazu verdammt wird, sich vom Mann beherrschen zu lassen, wäre doch vielmehr nach der Angemessenheit der überkommenen Lesart zu fragen. Wenn der alttestamentliche Mythos heute neu zur Aufführung kommt, werden Identifizierungen mit den Protagonisten und Protagonistinnen anders geartet sein, als vor zweieinhalbtausend Jahren. Wer bin ich als Adam, wer bin ich als Eva, wer als Schlange und kann ich mich auch in den Baum der Erkenntnis hineinversetzen? Darf ich in der Rolle Gottes eine Bühne betreten? Ja, warum denn nicht? Als christliche Theologin des 21. Jahrhunderts schließe ich mich einem innerhalb protestantischer Wissenschaft breiten Konsens an, wenn ich nicht die Buchstaben in kanonischer Anordnung für heilig halte, sondern die Liebe und Fürsorge Gottes, auf die sie verweisen. Damit ist dem Sinn und der Bedeutung der kanonischen Textüberlieferung als unverändert zu tradierendem Glaubenszeugnis nichts abgesprochen. Auch die Worte vom Handeln Gottes sind Worte, die menschliche Subjekte geformt haben, die so gut es geht von Subjekten immer neu übersetzt werden. Voraussetzung dafür, dass ich freimütig die Rolle Gottes in einem bibliodramatischen oder auch psychodramatischen Spiel übernehme und auf die Bühne bringe ist, dass ich mir vor, nach und bedingt auch während des Spiels bewusst bin, dass ich meine eigenen Vorstellungen vom Sein-Gottes handelnd erlebe. Verlasse ich die Bühne, bin ich wieder ich selbst, kann reflektieren, was da gerade geschehen ist und bin vielleicht doch mit göttlichem Geist berührt worden, der mir eine Ahnung von Wahrheit vermittelt. Vielleicht habe ich auch einfach einer eigenen Leidenschaft der Macht und Herrlichkeit gefrönt, was als Spiel auch ein wohltuendes Erlebnis sein mag, das dem Text nichts von seiner Würde nimmt, weil es mein Spiel war.

Nimmt man sich von der zweiten Schöpfungsgeschichte nur die Verse Gen 2,4b-15 vor, begegnet man einem Handlungsfaden, der von der Erschaffung des ersten Menschen über eine Beschreibung des Gartens in Eden und des Landes mit seinen Kostbarkeiten bis zum Hineinsetzen des Menschen in den Garten oder – der Übersetzung der griechischen Septuaginta (LXX) folgen– ins Paradies reicht. Der Raum der Schöpfung wird durch Dinge konstituiert, die als Kostbarkeiten beschrieben werden. Eine Identifikation mit den genannten Elementen in spontan assoziierendem Spiel einer temporären Bühnenrealität mag zu einer differenzierteren Vorstellung und Beziehung zum Sprachbild Paradies wie auch zur erfahrenen Schöpfung führen. Was ist mein Gold, das der Fluss mit sich bringt, was mein Edelstein? Was für einem Gott begegne ich als erster Mensch und wie begegne ich als Gott meinem Geschöpf? In bibliodramatischer Perspektive wird es im Rahmen einer Auswertungs- oder Integrationsrunde nach einer solche Fragen ausagierenden Spielphase, wenn alle wieder sie selbst sind, weniger um das Biografische gehen, was unser Agieren auf der Bühne immer irgendwie beeinflusst, sondern eben um die subjektiv erlebten Wahrheiten, auf die der Text verweist. Und wenn nun Gott doch Gott bleibt, ganz gleich wie ich sie auf der Bühne verkörpert habe, sich aber mein Gottesbild durch diese Praktik ein Stückchen wandelt, dann ist es doch auch analog möglich davon auszugehen, dass die Rede von der einen Wahrheit, die uns alle treibt und die wir interreligiös oder auch transreligiös in schillernden Nuancen erfahren, immer noch stimmig ist. Um diese Wahrheit können wir streiten. Wer sich mit den Früchten des Baumes der Erkenntnis und ihrer Wirkung bei Verzehr schon einmal intensiv auseinander gesetzt hat, wird daraus für einen solchen Streit möglicherweise etwas vorbereitet sein. Auch wer nicht streiten mag, könnte so vielleicht zu den schönen Dingen und Gaben im Leben eine leicht veränderte Beziehung erhalten haben. Schön ist es, sich gemeinsam an biblische Texte heranzuwagen, handelnd zu erforschen und gewissermaßen auszuprobieren. Aber dramatische Erlebnisse im positiven Sinne sind auch bei der privaten Lektüre ganz allein möglich, zum Beispiel so: Wenn ich die Quelle des Euphrats wäre, wer bin ich, was treibt mich ... ? Richtig hinein in die Vorstellung als Ich-Euphrat, aber dann auch unbedingt wieder ganz hinaus und einen Abstand nehmenden Blick darauf werfen, was da gerade erlebt wurde und geschehen ist. Dramatisches Bibellesen kann so alte Texte ganz neu erfahrbar werden lassen.

Antje Martina Mickan

 

 


[1] Zitiert nach der Übersetzung der Lutherbibel in der revidierten Fassung von 2017 (hrsg.v. Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart).

Ältere Texte:

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Augustthema 2021

 

Sommerlied

Freu dich, daß die Blumen duften
Süß bei Bauernbrot und Speck –
Laß die Schurken und die Schuften,
Laß den ganzen ganzen Dreck!
Und die Sonne schimmert golden,
Und das Bier ist gut und frisch,
Schmetterling und Lindendolden
Flattern auf den Gartentisch.
Was gekommen, was gagangen –
Allem tink ich lustig zu!
Keine Wünsche kein Verlangen
Stört die liebe Sommerruh.
Und im Herz blühn Mohn und Lerchen,
Und du lachst so wunderbar,
Kind! mit deinen alten Märchen
Täusche nicht mein graues Haar!
Denn ich lernt mich längst bescheiden,
Unnütz war, was all geschah ...
Blaue Nacht! du nahst so seiden,
Und die Sterne sind schon da –  – –

 

Aprilthema 2021

Im März 2021 ist auf dieser Website eine Typologie der Bestattungs­formen vorgestellt worden. Sie entstand in Zusammen­hang mit einer empirischen Unter­suchung zu Bestattungs­wünschen älterer Menschen. Aus einer Reihe von qualitativen Leitfaden-Interviews[1] mit semiotisch ausge­richteter inhaltlicher Analyse[2] zu diesem Thema wurden nun für diesen Beitrag besonders prägnante Abschnitte aus Gesprächen mit unter­schiedlichen Vor­stellungen der Erzähl­personen ausge­wählt. Sie veran­schaulichen einerseits die besagte Typologie und nehmen Bezug hierauf. Anderer­seits lassen sie ein besonderes seel­sorgliches Potential von Gesprächen mit Älteren erkennen, wenn die Frage nach Vorstellungen vom eigenen Tod und eigenen Grab nicht ausgespart, sondern als ein Angebot zum gemeinsamen Nachdenken gewagt wird. Dass die Interviewführung im jeweiligen Setting nicht Seelsorge, sondern eine wissen­schaftliche Daten­erhebung zum Ziel hatte, sei ebenso betont wie die Not­wendigkeit eines sensiblen Umgang mit dieser Frage.[3] Ergab sich bei den Proban­dinnen und Probanden des Samples[4], aus welchem die hier verwendeten Interviews stammen, ein Bedarf nach persönlicher Rück­meldung oder auch Seelsorge, wurde dem in einem aus­führlichen Nachge­spräch entsprochen.

Die Anonymisierung der Namen der Erzählperson erfolgte hier schlicht mit A, B, C, um jede bedeutsame Verbindung mit dieser Umbenennung auszuschließen. Die Interviewzitate geben das gesprochene Wort möglichst authentisch wider und folgen daher nicht immer den grammatikalischen Konventionen. Unterstreichungen entsprechen besonders betonten Ausdrücken, lange Gedankenstriche (—) markieren Sprech­pausen.

Frau A: „Dann schläft man eben

Die erste Probandin (Frau A) ist zur Zeit des Interviews 79-jährig und seit 20 Jahren Witwe. Sie hat einen Sohn, eine Tochter und sieben Enkel­kinder. Seit dem Tod ihres Mannes lebt sie allein in der alten Familien­wohnung einer nordwest­deutschen Groß­stadt in guter Reich­weite von Angehörigen. Früher war Frau A vor­wiegend im häus­lichen Bereich tätig, dies hat sich mit Beginn ihrer Witwen­schaft jedoch sehr verändert, sie besuchte Weiter­bildungs­kurse und leitet heute eine Senioren­wander­gruppe. Frau A gibt als ihre Konfession „alt-lutherisch“ an. Zu Beginn des Interviews schildert sie den Verlauf ihrer Kindheit mit dem Tod des Vaters als einzigem Gefallenen dieses Kriegs­tages, die Jugend­entwicklung, das Kennen­lernen des späteren Ehemannes und wie sie an Schnitt­punkten im Leben von Vorahnungen getroffen wurde, deutet diese letzt­genannten Erlebnisse jedoch nicht. Ihr eigener Bestattungs­wunsch fußt auf ihren Entschei­dungen für die Beerdigung ihres Mannes und stammt damit aus einer Zeit, die sie selbst — wie vorher schon die Zeit nach dem Vater­verlust — als „schlimm“ charakterisiert.

Frau A: (leiser, eindringlich) „Aber ich konnt’ ihn nicht verbrennen lassen. Ich habe das dann (viel n, ja n) mir ne Doppelgrabstelle, hab ich gleich ne große Doppelgrabstelle genommen. Ich habe immer ge-, zu den Kindern auch gesagt: (mit zarter Stimme) ‚Dann könn’n wir wieder, wieder Händchen halten.' Is blöd, aber — ich habe das, ich habe das Empfinden (klopft beim Sprechen mehrmals auf den Tisch) er liegt immer noch so da drin, wie er mal war.Und wenn ich daneben komme, dann können wir Händchen halten, hi, hi.Echt! — Naja. So ist das dann. — Und, den Kindern habe ich auch gesagt: Wenn irgendwas is’, ich möcht das so wie der, wie euer Vater, nur die Familie, nichts drum rum.'Aber ich hab ja meine Grabstätte, ich weiß wo ich hinkomme."

Die Sprechhaltung der Probandin und ihre Stimmführung betonen in dieser Sequenz die Emotionalität, welche die Wahl der Grab­stelle für ihren Mann und für sich selbst bestimmt hat. Die Interviewte spricht von einer intimen und in ihrer Irrealität[5] durchaus wahrge­nommenen Vor­stellung,[6] die gewisser­maßen eine schützende Decke über das vergangene gemeinsame Lebens­glück[7] legt und das verbleibende Leben allein als einen Weg wieder zum Ehemann hin deutbar werden lässt. Doppel­grab als Bestattungs­wunsch konnotiert damit ebenfalls Treue. Wie sie später im Interview berichtet, fehlt ihr Mann ihr noch heute, besonders „um sich mal an die Schulter zu lehnen oder so zu kuscheln“, doch den Vorschlag ihrer Bekannten: „Ja soll’n wir dir ’n Freund besorgen?“, von dem sie lachend erzählt,habe sie entschieden abgewehrt: „Das will ich doch nicht“.

Eine andere Probandin, hier Frau B genannt, im gleichen Alter und seit 19 Jahren verwitwet, deren Mann sich eine Körper-Erdbe­stattung gewünscht hatte, da er lieber vermodern als verbrennen wollte, schildert, wie sie lange Jahre aus pragma­tischen Gründen die Vorstellung bevorzugte, sich „als Urne“ im Grab ihres Mannes beisetzen zu lassen, doch seit es die Möglichkeit von Körper­bestattungen im Gemeinschafts­rasengrab mit Namens­stele gebe, wolle sie lieber wie die meisten Witwen ihres Ortsteils dort beerdigt werden. Mit Blick auf die körperlichen Überreste ihres Mannes meint sie: „Ich nehme an, jetzt nach neunzehn Jahren, da beimeinm Mann, da ist nichts mehr da“. Diese Interviewte hat 18 Jahre lang aufwendige Grab­pflege geleistet und erst seit einem Jahr Boden­decker angepflanzt, wie sie sagt, ihres Alters wegen, und seit einem Jahr hat sie einen neuen, 85-jährigen Bekannten, mit dem sie viel unter­nimmt und auch in den Urlaub verreist.

Vergleicht man diese Aussagen mit der im März 2021 auf dieser Website vorgestellten Typologie sind folgende Zuordnungen möglich: In beiden Fällen handelt es sich um Körper-Erdbe­stattungen der Ehemänner in einem Raum mit Garten­charakter und einem Stein­grabmal an einer Individual­stätte, wobei jedoch mit Blick auf die „Objekt“-Kategorie unter­schiedliche Konzepte vom substanziellen Sein der Verstor­benen festzu­stellen sind, die in Hinblick auf Frau A eine explizit genannte, auf Frau B eine wahr­scheinliche Aus­wirkung auf den eigenen Bestattungs­wunsch erkennen lassen. Beim Gedanken ans Grab und den darin befindlichen Körper dominieren bei Frau B heute Vorstellungen der Auflösung und sie möchte selbst in einer Gemeinschafts­fläche bestattet werden, wo die Lage ihres Körpers bald nicht mehr erkennbar und ihr Name mit denen anderer Verstor­bener des Ortes auf einer Stele zu lesen sein wird. So ist der Aspekt der sozialen Integration gegenüber dem der persön­lichen Bindung weit stärker betont. Außerdem konnotiert die pflegefreie Rasenfläche eine Entlassung aus wechselseitigen Ver­pflichtungen. Frau A dagegen bewahrte das Bild vom Leib ihres Mannes im Grab.

Durch ihr Wissen um die eigene künftige Begräbnis­stätte scheint Frau A Trost und Sicherheit im Leben zu erfahren,[8] sie zeigt im Interview allerding hinsichtlich des Todes ihres Mannes bleibenden Widerstand auf, der sich zum einen in ihrem Todes­konzept, zum anderen in ihrem Glauben äußert. Die Probandin deutet den Tod später im Interview konsistent zur Begründung ihres Bestattungs­wunsches: „Dann schläft man eben. Man kriegt nichts mehr mit. Von diesem ganzen Unheil, was auf die Menschheit noch zukommt, kriegt man nichts mehr mit. Man schläft eben da unten. Is gut. Das is das Natürlichste, was es gibt, finde ich.“ Nimmt man ihren voraus­gehenden Wunsch des Wieder-Händchen-Haltens hinzu, so ergibt sich ein Todesbild, in dem Eros, Schlaf und Tod bewirken, dass der Mensch dem Übel der Welt entkommt.[9] Das ange­sprochene Unheil kann auf der Grund­lage des Interviews als drohende Umwelt­katastrophen, menschliches Elend und menschliche Grausam­keit interpretiert werden.[10] Trotz der Schilderung vieler schöner Erinnerungen und auch persönlicher Erfolge durch ihre zunehmende Selbständig­keit fällt ihre Ein­schätzung der Zeitge­schichte eher negativ aus und Frau A spricht über Sorgen um die Zukunft ihrer Enkelkinder. Ansonsten sieht sie ihre Familie als versorgt an und versichert: „Die weiß ich alle in guten Händen.“ Beim Blick auf Tod und Grab, rückt nun die bleibende Bedeutung von erlittenen Verlusten im Leben ins Bewusstsein, auf die sie ihrerseits mit dem Setzen einer Zäsur reagiert habe, wie die folgende Sequenz zeigt.

Frau A: „Früher habe ich vielleicht ’n bisschen anders gedacht. Aber als mein Mann gestorben war, habe ich eben so gedacht. Nur das eine. Mit dem da oben liege ich im Clinch (reckt die Faust nach oben). Man kann Christ sein (klopft auf den Tisch), aber muss man da noch glauben, wenn der so was macht?Verbrecher und so was, die was aufm Kerb­holz haben, die dürfen leben. Und ’n guter Mensch muss gehen. Seit dem liege ich mit dem (klopft auf den Tisch) auf-, im, im Clinch. […] Christ zu sein, — aber (klopft auf den Tisch) dann einfach nicht mehr zu glauben, dass der da is. Das kann ich mir nicht vorstellen, weil es so ungerecht ist, (kurzes gedämpftes Auflachen) he. Das is meine ehrliche Meinung. — He. — Und darum is mir das auch alles so egal. Das gehört alles dazu."

Die Rolle Gottes in ihrem Leben hat sich offenbar verändert. Gott ist zum Gegner geworden,[11] der nicht einmal mehr beim Namen genannt wird. Im alltäglichen Sprachgebrauch konnotiert die Rede von „denen da oben“, dass von der breiten Basis klar getrennte, gutsituierte Entscheidungs­träger, die auf viele Individuen Macht ausüben, ohne sich um deren Wohlergehen zu sorgen, gemeint sind. Die Probandin wählt überdies eine Vokabel des Boxsports, um ihr Verhältnis zu dem, der für ihr Schicksal verantwortlich sei, zu charakterisieren. Sie hat also einen harten Schlag einstecken müssen, zeigt sich aber als Kämpferin und wehrt sich. Clinch meint als Fach­terminus die feste Um­klammerung des Gegners, doch kann Frau A letztlich nur durch eine Glaubens­wende, die Negation Gottes — ihrem Sprachbild entsprechend —Gott in den Griff bekommen.[12] Christus dagegen ist ganz als Mensch gesehen, der für ein Ethos steht,[13] auf dessen Seite sich auch die Interviewte weiterhin fest verortet und sich im Übrigen auch eine kirchliche Bestattungsfeier wünscht.

Der von Frau A nach­drücklich dargelegte Stand­punkt ihres Christ-Seins ohne den Glauben an einen fürsorglichen, gerechten Gott stellt eine Haltung dar, auf welcher die Probandin offenbar nicht gelassen ruhen kann, sondern welche für sie den Diskurs verlangt, denn an dieses Interview schloss sich eine von der Probandin ausgehende intensive Diskussion zu Theodizee, Christlich­keit und Weltent­wicklung an, bei welcher die Interviewerin als Theologin gefordert wurde. Es ist sehr wahrscheinlich, dass sich in einem Seelsorge-Setting Möglich­keiten ergeben hätten, die Bedeutung von Schmerz und Sehnsucht in ihrem Leben neu zu hinter­fragen und im Gespräch Perspektiven zu eröffnen, an denen neben ein „alles so egal“ Lebenssinn hätte treten können. Würde von der Probandin, die Frage nach einer Versöhnungsmöglichkeit mit Gott gestellt, böte sich als Reflexions­grundlage in einem Seelsorge­gespräch das Einspielen von Rut 1,11-17; 4,14-17 an.

Frau C: „Wen interessiert mein Name noch? Die Kinder wissen ihn doch

Die Lebens­eckdaten einer weiteren Probandin (Frau C) weisen in einigen Punkten eine große Nähe zu denen von Frau A auf. Sie ist zur Zeit der Interviewführung 81-jährig, wie Frau A seit 20 Jahren verwitwet, ohne eine neue feste Partnerschaft einzugehen und lebt in derselben Großstadt ebenfalls in der alten Familien­wohnung. Frau C hat zwei Söhne, von denen der eine in Süd­deutschland, der andere in rund 60 Kilometer Entfernung wohnt, und vier Enkelkinder. Außerdem ist sie Mitglied der römisch-katholischen Kirche.

Schon im Vorge­spräch zum Interview teilt Frau C mit, dass sie unterm grünen Rasen[14] bestattet werden möchte. Wie es zu diesem festen Wunsch kam, den sie auch schriftlich hinterlegt habe, erklärt sie zuerst mit folgender Aussage: „Man sieht aufm Friedhof so viel und von anderen. — Wenn das Grab nicht gepflegt ist, das sieht doch grausam aus.“

Der Interviewten ist offensichtlich sehr bewusst, dass auf Friedhöfen vielfach Privates vor den Augen der Öffentlichkeit präsentiert wird, ohne dass die Verstorbenen noch Einfluss nehmen können.[15] Ist etwas „grausam“, wird auf einen Sachverhalt verweisen, bei dem es Täter und Opfer gibt, wobei als Opfer in diesem konkreten Fall — abgesehen von den vertrock­nenden Pflanzen[16] — das Andenken der dort Bestatteten genauso angesehen werden kann wie vielleicht mit der Pflegepflicht über­forderte Angehörige. Anlass für solche Untat soll ihr Tod nicht sein. Und als Frau C sich — wie sie sich später erinnert etwa drei bis vier Jahre nach Versterben ihres Mannes — nicht sicher sein kann, dass ihr älterer Sohn in ihrer Nähe wohnen bleibt, entwickelt sie den Gedanken, gar kein individuell gekennzeichnetes Grab zu hinterlassen. Mit folgender Beobachtung zur Nutzung der Urnen­grabstätte ihres Mannes und ihrer acht Jahre später verstorbenen Schwiegertochter[17] als Trauer- und Erinnerungsstätte setzt Frau C die Begründung ihres Bestattungs­wunsches fort:

Frau C: „Mein Sohn ging nicht zum Friedhof, die Schwieger­tochter ging nicht und die Kinder, auch nicht heute, die gehen nicht mal zur Mutter. Der eine sagt: Ich habe wochen­lang an ihrem Bett gesessen. Ich hab mich von ihr verabschiedet.' Und der andere, hm. — Ja. Und da hab ich gesagt: Ich geh untern grünen Rasen, da braucht keiner mehr ’n Grab pflegen. Dann ist das fertig. Und damit Schluss. Und wer hin will, der kann zum Fried­hof gehen und kann gucken.' Ich habe so den Kindern jetzt freie Hand gelassen, sie können das mit so ’nem Stein oder ohne machen. Ich für-, mein eigent­licher Wille is’, richtig untern grünen Rasen, wo keiner weiß, wo das is’. Dann bin ich weg. Und dann, wer Erinnerung haben will, — der hat se doch."

In über­zeugender Weise zeigt Frau C in dieser Sequenz anhand des Verhaltens ihrer nahen Ange­hörigen auf, warum kaum zu erwarten sei, dass diese eine öffentliche Erinnerungs­stätte für ihre Mutter und Groß­mutter je benötigen werden.[18] Beispiel­haft ist die wiedergegebene Argumentation ihres Enkels, der den Besuch des mütterlichen Grabes für obsolet einstufe, weil er am Kranken­bett bereits einen langen Verab­schiedungs­prozess durchlebt wie abge­schlossen habe.[19] Das wochen­lange Sitzen am Bett der Totkranken konnotiert anstrengendes Mitleiden.[20] Eine Zumutung für ihren Enkel will Frau C sicher weder sein noch werden, zumal sie im Interview schildert, welch große Bedeutung ihre Selbständig­keit für sie habe. Entsprechend wünscht sich die Probandin, dass ihre Bestattung einen klaren Endpunkt ihres Da-Seins setze, der keine weiteren Aufwendungen ihrer Angehörigen erfordere.[21] Eine typologische Einordnung ist hier sehr klar möglich. Es handelt sich um eine Feuer­bestattung mit dem Aspekt der Eliminierung/Auflösung — an einem Ort mit dem Charakter einer kultivierten Wiese, folglich einer Gedenk­landschaft — ohne individuelle Kenn­zeichnung in einer Gemein­schaftsfläche (vgl. zu Konnotationen die Abbildungen der Typologie). Frau C rechtfertigt sowohl die nicht zu erwartenden Friedhofs­besuche ihrer Kinder und Enkel als auch ihren eigenen Stand­punkt, dass ihr Grab nicht aufge­sucht werden bräuchte, etwas später im Interview mit der unterschied­lichen Qualität von sich mit dem Tod lösenden Bindungs­verhält­nissen.[22] Von ihr sei heute niemand mehr abhängig. Als ihr Mann jedoch vor zwanzig Jahren starb, habe sie besonders in der ersten Zeit sein Grab als Ort, an dem sie ihr Alleinsein beklagen konnte, gebraucht. Bei ihren Kindern und Enkeln sei ein ähnlicher Bedarf nicht zu erkennen. Sie stellt fest: „Die haben mich gehabt — gemocht oder nicht. — Und wenn ich weg bin, dann haben die keinen großen Verlust“, sie seien alle gut versorgt und nicht allein.[23] Zwar spricht die Probandin hier mit Nachdruck, um ihren Bestattungs­wunsch zu begründen, ohne jedes Zeichen von Selbst­mitleid, dennoch sind die letztge­nannten Worte auffällig. Sie konnotieren ein geringeres Selbst­wert­gefühl. Im fortge­schrittenen Interview klagt sie dann über Heraus­forderungen durch das lange Leben als Allein­stehende. Besonders abends fehle ihr das Gegenüber und die Möglichkeit zur „Ansprache“.

Frau C berichtet in einer späteren Interview­sequenz, dass ihr heute noch in der Nähe wohnender Sohn von den Themen Krank­heit und Sterben nichts hören wolle.[24] Dabei fehlt ihr wohl stärker die Möglich­keit, über das zu reden, was sie gerade beschäftig, als dass ihr Sohn sich um sie sorgen möge, denn die Proban­din ist einerseits sehr bedacht auf ihre Selbständig­keit und misst anderer­seits ihrem eigenen Tod keine Tragik bei. Als sie etwa ein Jahr vor dem Interview­gespräch einen Unfall mit anschließen­der längerer Bewusst­losigkeit hatte, habe sie weniger gelitten, als die sie damals begleitende Bekannte. Frau C teilt mit, dass sie im Nach­hinein ihren Arzt mit der Frage konfrontierte: „Warum hat man mich nicht — gelassen?“, und meint etwas später: Das wär ein Traum von Tod.“

Ebenso wie Frau C sich ihren Tod als ein sie mitten aus dem Leben heraus treffendes Ereignis wünscht, welches direkt das Weg-Sein zur Folge hat und von der Umwelt zugelassen werden kann, wünscht sie sich ihre Bestattung. Die anonyme Beisetzung „unterm grünen Rasen“ verweist darauf, dass sie fort ist und die Lebenden sich um sich selbst zu kümmern haben. Und bezüglich des fehlenden öffentlichen Verzeichnisses ihres Namens als Signifikant ihrer individuellen Identität meint sie: „Wen interessiert mein Name noch? Die Kinder wissen ihn doch.“[25] Ein großes, professionell erstelltes Foto von sich, das sie aus Anlass ihres 75. Geburts­tages an alle Kinder und Enkel verschenkt habe, sei dagegen geeignet, bei denen, die sie vielleicht anfangs vermissen werden, als Andenken zu dienen.

In Hinsicht auf ein eventuelles Leben nach dem Tod berichtet die Probandin, dass sie sich ein solches Leben nicht vor­stellen könne,[26] und zwar zuerst einmal aufgrund ihrer vollständigen Erinnerungs­lücke während ihrer Bewusst­losigkeit nach dem oben angesprochenen Unfall: „Ich war doch jetzt so weit weg. Ich weiß doch von zwei Tagen gar nichts, bis ich wieder da war.“ Sie fährt wie folgt zum Thema fort:

Und, äh, ich glaube da nicht dran. Wenn man tot ist, ist man tot. Man stirbt. Über­legen se mal, die im Koma liegen, — die sind doch-, und die hirntot sind, die merken doch nix mehr. Wie kann ich dann was merken? Dass es ’ne Seele gibt und geben mag, oh ja. Die mag von mir aus in n Himmel oder sonst wohin gehen, aber das is seelisch, das is — gedanklich, aber körperlich nich."

Am aktuell gesellschaftlich-medial diskutierten Beispiel der Hirntoten illustriert Frau C ihre nüchterne und natur­wissen­schaftlich geprägte Sichtweise, widerspricht aber einer Hoffnung auf ein geistiges Sein der Seele bei Gott nach dem Tod nicht. Wie diese Seelen­existenz allerdings in Beziehung zum Menschen, seinem Leben und Tod einzu­ordnen wäre und was es für den Blick auf den Tod bedeuten könnte, eine Seele zu haben, bleibt im Interview dunkel. In gewisser Weise korrespondiert diese Leerstelle mit einer ihr nicht erklärlichen Veränderung bezüglich ihrer Religiosität. Seit dem Tod ihres Mannes sei sie „nie wieder zur Kirche gegangen“, ohne den Grund hierfür zu kennen. Sie erwägt, dass es sich möglicherweise um eine Reaktion aus „Trotz“ handeln könnte. Trotz konnotiert nicht nur Wider­spruch, sondern auch Kränkung sowie das Empfinden erlittener Unge­rechtigkeit. An wen sie diese Gefühle und Gedanken der Abwehr adressiert, ob an die Pfarrer, die Gemeinde, den Katholizismus oder Gott, benennt sie hier nicht. In einem seelsorg­lichen Gespräch hätte dem nachge­gangen werden können, denn einer kirchlichen Bestattung steht Frau C — nach einigem Nachdenken — offen gegenüber, aber nicht als Erfüllung eines von ihr stammenden Wunsches, sondern als eine Entscheidung der Familie und der Kirche. Da körperliche Beeinträch­tigungen und Einsamkeit sich im Interview bzw. im Vor- und Nach­gespräch als bedeutende Herausforderungen zeigten, wäre im Seelsorge-Setting wohl eine freie gemeinsame Assoziation zu den in Koh 11,9-12,8 gebotenen Bildern geeignet, um eine weitere, mögliche Perspektive ins Spiel zu bringen, die zwar alt und biblisch, aber doch so offen ist, dass sie moderne Menschen heute ansprechen kann.

Schlussbemerkung

Die Frage nach der gewünschten Bestattungs­form bringt lebens­weltlichen Sinn ins Gespräch. Darin liegt auch für die Kirchen eine Chance. Nicht bei einer passiven Öffnung für alles, was möglich ist, aber beim aktiven Eruieren und Reflektieren von heute angemessenen Zeichen für die alte Botschaft des Evangeliums in neuer Deutlichkeit und aktueller Interpretation können sich die Kirchen ihres eigenen Grundes bewusst werden. Diese Bedeutung im Bestattungs­kontext und darüber hinaus so zu kommunizieren, dass Menschen der Gegenwart daran anknüpfen können, setzt eigene Orientierungs­arbeit über Wesentliches, über Menschen- und Todesbilder innerhalb der Kirchen voraus und sollte die Alten in ihrer Vielfalt mit im Fokus haben.

Antje Martina Mickan

Es handelt sich bei diesem Text um den letzten Abschnittes meines Artikels "Bestattungswünsche älterer Menschen. Zeichen von Erinnerung, Würdigung, Identität  – typologisiert und gedeutet" in: Th. Klie, M. Kumlehn, R. Kunz, Th. Schlag (Hg.): Praktische Theologie der Bestattung, Berlin 2015, S. 343-369. Eine ausführliche  Darstellung zur Thematik mit historischen Überblicke zu den gewählten Kategorien finden Sie in dem von mir verfassten Band 23 der Kasseler Studien zur Sepulkralkultur.


[1] Es handelt sich um Interviews mit hoher narrativer Ausrichtung und flexibler Reihung der vorgegebenen Fragen und Stichpunkte.

[2] Die Auswertung erfolgte als deduktiv-induktives Verfahren im Stil der Grounded Theory. Vgl. Anselm L. Strauss u. Juliet M. Corbin, Grounded Theory: Grundlagen qualitativer Sozialforschung, Weinheim 1996.

[3] Die hier ausgewählten Interviews wurden mit den Probandinnen im Sommer 2012, wenige Tage nachdem ihnen das Thema der Untersuchung vorgestellt worden war und sie sich zu einer Teilnahme bereit erklärt hatten, geführt.

[4] Interviewt wurden elf Männer und Frauen im Norden Ost- und Westdeutschlands im Alter zwischen 72 und 89 Jahren in unterschiedlichen Lebenslagen und mit unterschiedlicher religions-kultureller Orientierung.

[5] Hiermit ist ein Vorgang gemeint, der in einer von Menschen wahrnehmbaren und naturgesetzlich funktionierenden Welt mit Sicherheit nicht wird beobachtet werden können.

[6] Neben der Beurteilung als „blöd“ reflektiert die Probandin an anderer Stelle den aktuellen Zustand der sterblichen Überreste ihres Mannes im Vergleich mit ihrer Vorstellung vom unversehrten Schlaf noch deutlicher: „Es ist verrückt, aber — es stimmt ja nicht, es stimmt ja nicht“ und behauptet sich dennoch mit ihrer Sichtweise: „Aber es is so. Für mich ist das eben so“. An weiterer Stelle meint sie über die sterblichen Überreste der Menschen allgemein: „Wird ja alles zu Erde“.

[7] Zum Kennenlernen ihres Mannes sagt die Probandin, es sei „das größte Glück in meinem Leben“.

[8] Entsprechend redet die Probandin mit Bezug auf dieses Grab von ihrem „Plätzchen“, dessen sie ja gewiss sei.

[9] Damit zeigt sich eine erstaunliche Nähe zum in der Deutschen Romantik neu ansetzenden Grundgedanken von Eros, Schlaf und Tod. Zu dessen Reflexion als Tiefenphänomen vgl. José Sánchez de Murillo, Vorwort: Zurück zum Lebensgrund, in: Ders. u. Martin Thurner: Eros, Schlaf, Tod, Stuttgart 2007, 11-19 (15-19).

[10] Die Probandin berichtet bspw.: „Die Enkel haben mich noch zum Bus gebracht und da sprachen wir auch über diese Sachen. (Eindringlich) Wie kommt es, dass Menschen Menschen töten?“

[11] Vgl. Rut 1,13 mit Kontext.

[12] Vgl. Gen 32,23-33.

[13] Zur großen Bedeutung einer sozialen Ethik bzw. diakonischen Handelns für Kirchenmitglieder heute vgl. bes. Wolfgang Huber; Johannes Friedrich u. Peter Steinacker (Hg.), Die vierte EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft. Kirche in der Vielfalt der Lebensbezüge, Gütersloh 2006, 58-61, 151-156.

[14] Die Probandin versteht dies im engen Sinne als anonymes Grab in einer Urnengemeinschaftsanlage bzw. im anonymen Urnenhain.

[15] Hier ist von absichtlichem und unabsichtlichem Zeichensetzen auszugehen. Zur Funktion der Anderen in Bezug auf den Lebenssinn Verstorbener und bes. zur Enteignung durch den Tod vgl. Jean Paul Sartre, Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Anthropologie, Hamburg 162010, 929-936, bes. 934-936.

[16] Die Befragte berichtet von den Blumen des Grabes neben dem ihres Mannes, die sie oft vor dem Vertrocknen gerettet habe.

[17] Die Schwiegertochter starb an einer Krebserkrankung und wurde auf eigenen Wunsch im Grab des Mannes der Probandin beigesetzt. Letztere hatte sich schon zuvor für ein pflegefreies Grab entschieden, wovon die Schwiegertochter wusste und Frau C darauf hin ansprach.

[18] Es ist nicht auszuschließen, dass mit ihrem Erkennen, innerhalb der Familie mit der Ausübung des Friedhofsgangs als Ritus der Trauer um ihren Mann und ihre Schwiegertochter allein zu sein, ein Wecken oder Verstärken von Gefühlen der Einsamkeit verbunden war und vielleicht noch ist. Zu weiteren Hinweisen auf Einsamkeitsempfinden, die es in einen Seelsorgegespräch nahelegen könnten, diesbezüglich Bewältigungsstrategien zu eruieren bzw. der Klage und Trost Raum zu geben, s.u.

[19] Zur Realisierung des Todes als Lernprozess und dessen Begünstigung durch einen frühen Beginn noch am Sterbebett vgl. Kerstin Lammer, Den Tod begreifen. Neue Wege in der Trauerbegleitung, Neukirchen-Vluyn42006, 220-224, 260-261; ferner zur antizipatorischen Trauer Sörries, Beileid, a.a.O., 168-171. — Den zweiten Enkelsohn bezeichnet die Probandin als „Schwarzes Schaf von der Familie“ und wird so wohl nicht einen Besuch ihres Grabes von ihm erwarten.

[20] Vgl. Eckhard Frick, Abwehr und Bewältigungsstrategien gegenüber Sterben und Tod, in: Wittwer/Schäfer/Frewer, Sterben und Tod, a.a.O., 179-186 (183-184).

[21] Dieser Wunsch ist kaum als altruistisch anzusehen, da sie ihrer Familie allenfalls eine Pflicht erspart, von der sie überzeugt ist, dass sie nicht erfüllt werden kann und sich zudem keine vertrocknenden Pflanzen auf ihrem Grab wünscht. Vgl. zur Deutung anonymer Bestattungen anders Klie, Bestattungskultur, a.a.O., 219-420.

[22] Vgl. zur psychologischen Erklärung von Angst vor dem eigenen Tod bzw. dessen Akzeptanz im Alter durch Umstrukturierungsprozesse Joachim Wittkowski, Psychologie, in: Wittwer/Schäfer/Frewer (Hg.), Sterben und Tod, a.a.O., 50-61 (52-53).

[23] Auffällig häufig spricht die Probandin davon, alleine etwas getan zu haben bzw. zu tun oder alleine gewesen zu sein.

[24] Im Anschluss reflektiert die Probandin ihren eigenen Anteil an der Unwissenheit des älteren Sohnes über ihre Krankheiten und merkt an, dass ihr zweiter Sohn, der in Süddeutschland wohnt, informierter gewesen wäre.

[25] Ob sie davon ausgehe, dass auch Gott ihren Namen kenne, wurde im Interview nicht erfragt, dies ist jedoch denkbar.

[26] Zur Vorstellung wären Bilder notwendig, die mit dem eigenen Leben und Erleben Konsistenz aufweisen und auch einer Prüfung moderner Rationalität standhalten. Solche Glaubensbilder stehen ihr möglicherweise nicht zur Verfügung. Die Probandin könnte hier auch lediglich allzu fleischlich-leibliche Vorstellungen eines Ewigen Lebens zurückweisen, da sie etwas später berichtet, schon ihre sehr religiöse Mutter habe mit der Mondlandung am Sein der Verstorbenen im Himmel zu zweifeln begonnen.

Märzthema 2021:

Letzte Zeichen

Januarthema 2021:

Ein Augen­blick des Jahres 2020 heftete sich mir besonders im Gedächtnis fest und ist mit unge­lösten Fragen verbunden. Diese Fragen beziehen sich weniger auf das damals Gesehene als auf meine persönliche Reaktion nach einem Erleben, das sich in etwa wie folgt zugetragen hat:

An einem noch warmen Herbst­tag bin ich in Frankfurt am Main zusammen mit Pfarrerin S. auf dem Weg zum Haupt­­­bahnhof. Wir hatten beide an einer pastoral­psycho­logisch-psycho­dramatisch orientierten Weiter­bildung teilge­nommen. Nun war noch etwas Zeit, bis unsere Züge abfuhren und so wollten wir uns gemeinsam in Bahnhofs­nähe in einem netten Lokal einen Imbiss gönnen. Als wir an das Ende einer Fuß­gänger­unter­führung kommen, begegnet uns dort mitten auf unserem Weg der Anblick eines jüngeren Mannes in einer offenbar prekären Lebens­lage. Er taumelt mit gesenktem Kopf, findet allmählich die Balance und steht schließ­lich mit leicht gebeugten Knien, aufrechtem Ober­körper und auf die Brust herab­gesunkenem Kinn im Zentrum des Platzes vor der Treppe, wo wir hinauf wollen. Es ist ein Bild tiefster Versunken­heit, ja Intimität und Fragilität, das für den Moment, in dem wir still in kleinem Bogen vorbeigehen, stabil bleibt. Ecce homo. Ich frage mich, ob dieser Mensch wohl noch am Leben sein wird, wenn ich das nächste Mal in dieser Stadt sein werde. Ich denke weiter an den Jahres­kongress der DGfP 2019 mit dem Motto „Die im Dunkeln sieht man nicht“, auf dem ich den Ein­druck hatte, wir befassten uns nicht mit dem Nicht-Gesehenen (das wäre ja eine Unmög­lichkeit), aber auch nicht mit unserem Nicht-Sehen. Sondern wir suchten immer wieder intensiv die gerade noch bekannten Grau­zonen unserer Wahr­nehmung ab, um sie uns einmal kurz vor Augen zu führen. Hier präsentierte sich unserem Blick nun unüber­sehbar eine Gestalt, die uns wiederum kaum wahrzu­nehmen schien, uns um nichts bat, nichts von uns wollte, für den Moment „randvoll“ mit was auch immer zu sein schien. Warum, zum Teufel, musste ich, als wir an ihm vorbei am oberen Treppen­absatz waren, so ungefähr die Worte „Ich muss ihm, Gott sei Dank, nicht helfen“ laut aus­sprechen? War das die selbst­gefällige Äußerung einer Seel­sorgerin, die gerade einen Test auf Über­prüfung eines möglichen Helfer­syndroms zu über­standen haben glaubt? War das ein Ausdruck meiner Erleichterung, soeben an der Begegnung mit großem Elend, das ich nicht zu ändern weiß und das, Gott sei Dank, nicht mein eigenes ist, unbehelligt vorbei­gekommen zu sein? Oder war das vielleicht die Aussage von mir als einer Frau aus einer anderen, kleineren Stadt mit Wohnung in einem schönen, grünen Bezirk, die sich nicht traut, eine Bemerkung zu den ganz anderen, sichtbaren Lebens­welten in dieser Metropolen­gegend zu machen? Ich weiß nie, ob solche Personen aus geradezu trans­zendenten Welten mich nicht doch etwas angehen, quasi meine Nächsten sind. Und schließlich bin ich auch als Psycho­dramatikerin gefordert, mich zur Weltan­schauung des Psychodrama Begründers Moreno, der von einer Allver­bundenheit ausging, einiger­maßen zu positionieren. Die Erscheinung dieses Mannes war irgendwie völlig jenseitig, doch zugleich menschlich nah und bewegend. Wer bin ich, dass ich hier etwas sehe und so ziemlich nichts erkenne? Darüber hätte sich gut gemeinsam nachdenken lassen, so aber erledigte die Antwort von S., dass auch sie hier nicht helfen müsse, die Situation ein gutes Stück weit. Unsere Unter­haltung beim Essen kreiste dann um Themen unserer üblichen Sphäre zwischen beruflichem und privatem Leben.

Inzwischen befindet sich die Gesell­schaft in einem zweiten (Teil-)Lockdown, bei dem für zahl­reiche Menschen berufliche und private Rollen in unge­wohnter Weise miteinander in Kollision geraten, in ihrer Bedeutung neu gefunden oder auch verloren werden und wo die Zukunft eine kaum gekannte Dunkel­heit umgibt. Wer jetzt nicht auf Reserven zurückgreifen kann oder im Leben gerade gut einge­richtet ist, muss Auswege suchen und sich oft wohl auch damit auseinander­setzten, dass ein lieb­gewonnener oder für die Zukunft schon fest einge­planter sozialer Status in der Gefahr steht, sich aufzulösen. Wer vorher schon eine kleine Lücke im Lebens­lauf hatte, sieht möglicher­weise jetzt dem Wachsen eines Kraters zu. Digitali­sierung scheint sich als bei all dem als Universal­lösung zu entwickeln, die selbst so traditio­nellen Angelegen­heiten wie dem Weihnachts­gottesdienst eine einzige Rettung bieten mag. Doch handelt es sich dabei immer noch lediglich um einen Inter­aktions- und Kommunikations­modus, der auf bestehende Beziehungen und Strukturen angewiesen ist.

Ich werde nie erfahren, was den jungen Frankfurter in seine aus meiner Sicht desolate Lage brachte. Aber ich teile das Allgemein­wissen, dass die Eitelkeit der einen (zu denen ich selbst ein gutes Stück weit gehöre) zusammen mit ihrem Streben nach sicherem Wohlstand, ihrem Pochen auf Status­konventionen und ihrer Aus­nutzung von persönlichen Möglich­keiten, Lebens­chancen anderer eingrenzt. Um in dieser Richtung eine neue Orientierung zu gewinnen, bietet die Pandemie­situation augen­blicklich eine aufdring­liche Gelegenheit. Was gilt’s, wer ich bin, wer du bist und was die anderen von uns halten? Wollen wir geachtet werden, bewundert, geliebt, respektiert, versichert, in Ruhe gelassen? Auf welcher Basis soll dies geschehen und was steuern wir selbst dazu bei? Gibt es neben allen trennenden Privilegien und Identitäten nicht auch Gemeinsames, das geteilt werden könnte?

Als Theologin steht mir bei derartigem Nach­denken besonders auch ein Brief vor Augen, den der neu­testament­liche Paulus schrieb, als er sich vermut­lich gerade – nicht in einem „Lockdown“, vielmehr – in einem „Lockup“, nämlich in römischer Gefangen­schaft in Ephesus befand (Pokorný / Heckel 2007, 289f.). Er stößt darin mit wenigen Worten ein Nachdenken über die Ambivalenz von sozialen Rollen wie auch über den Gestaltungsspielraum in ihnen an. Dieser an den Christen und wohlhabenden Sklavenbesitzer Philemon gerichtete Brief besteht aus einem einzigen Kapitel (vgl. insg. Reinmuth 2006). Nach einem Präskript (V. 1-3) und Proömium (V. 4-7) leitet der Apostel sein Anliegen der Fürsprache für den kürzlich Christ gewordenen Sklaven Onesimus („der Nützliche“) bei seinem Herrn Philemon, der ihn wegen Unnütz­lichkeit anscheinend aus dem eigenen Haus und Dienst entfernt hatte, folgender­maßen ein: „(8) deshalb, obwohl ich in Christus große Freimütigkeit habe, dir die Pflicht aufzutragen, (9) will ich um der Liebe willen eher bitten, während ich ein solcher bin: als Paulus [ein Kleiner bzw. Geringer], ein alter Mann, nun aber auch Gefangener Christi Jesu“.[1] Paulus sein, ein Alter-Mann sein, Gefangener sein sind sozial relevante Zustände der Person, die entsprechend mit Rechten und Pflichten verbunden sind, doch dies in Abhängigkeit zu verschiedenen Kontexten in Variationen. Sein beschriebenes, der gesell­schaft­lichen Erwartung nicht konformes Handeln (zu bitten, nicht zu befehlen) lässt vermuten, dass für Paulus diese Rollen wohl erst durch sein eigenes Verhältnis zu und individuelles Verhalten in ihnen ihre Bedeutung erhalten. Während Paulus in V. 8 seine Position durch ihre Rechte und Freiheiten beschreibt, gibt er in V. 9 seinen Rollen Namen. Als Apostel Christi und Gemeinde­gründer hat er das Recht, Gemeinde­gliedern wie Philemon Anordnungen zu geben, die weitere Gemeinde­mitglieder betreffen, ohne auf die hohe gesell­­schaftliche Stellung des rei­chen Sklaven­besitzers Rücksicht zu nehmen. Als liebender Bruder wäre dies aller­dings ein unange­messenes Verhalten. Paulus schätzt die Bruder­rolle offenbar mehr und bittet entsprechend, womit er freilich dem Philemon zugleich ein Vorbild gibt. Und er tut dies in der eigentlich eher schmachvollen Situation als Gefangener mit doch würdevollem Duktus. Soweit ist die Sachlage eindeutig, nicht jedoch bei den Rollen­bezeichnungen, die allesamt in ihrer Bedeutung eine mindestens ambivalente Spannung beinhalten. „Paulus“ bezeichnet eine nach einem einschnei­denden Erlebnis neu angenommene Identität. In der „Paulus­rolle“ sind u.a. Predigen, Leiten und Lieben zu verbinden, aber auch zu verantworten. So ist Paulus Gefangener der Römer geworden, jedoch als innerlich freier Gefangener Christi. Die Rolle des alten Mannes ist die des ehrwürdigen Vorbildes und Entscheidungs­trägers, der weisen Rat erteilen kann, und anderer­seits aber auch die des Schwächer-Werdenden, der zunehmend weniger für sich selbst wird sorgen können und vielleicht sogar als Spott­bild dient. Im Philemonbrief sieht sich der Verfasser mit den Adressaten in dem Bewusstsein verbunden, dass es bei den auf verschiedenen Ebenen realisierten Rollen der Einzelnen auf die des Menschen vor Gott in seinen liebenden Beziehungen ankomme. Die Einzelnen sind durch die geteilte Gemeinschaft mit Christus zu einer neuen Gemeinschaft (κοινωνία, V.6) Verbundene. Dennoch sind die anderen Rollen bzw. Rollenanteile natürlich weiterhin von Einfluss auf das sie einnehmende Subjekt. Paulus spielt zwar mit der Doppel­deutigkeit der Begriffe, lässt aber ihre Bewertung offen. Was es für ihn konkret heißt, ein alter Mann (πρεσβύτης) zu sein, führt er in diesem Vers nicht aus.[2]

Im hohen Lebens­alter gewachsene Fragilität ist in der aktuellen Pandemie­situation zu einer gesteigerten gesellschaftlichen Herausforderung geworden. Wie können wir unsere älteren Mitmenschen vor Ansteckung schützen, wie im erschwerten Alltag unter­stützen? Es ist erleichternd zu erfahren, dass in unserem Land ein Engagement zur Lösung dieser Fragen wahrnehmbar ist. Wird sonst teils auch vom Geiz der Alten gesprochen, die ihre Rente lieber in ein schönes Wohn­mobil investieren als in den Nachwuchs der Gesell­schaft, richteten sich aktuell doch mehr Diskurse auf die Pflege­situation und Fürsorge. Der Umstand, dass hier­zulande annähernd alle selbst einmal ein hohes Alter erreichen wollen, ist dabei sicher ein guter Vorteil. Dass es  zu allen Zeiten noch andere gefährdete Menschen – auch in unserer Nachbar­schaft – gibt, aller­dings in Lebens­lagen, die wir um Himmels Willen von uns und den Unsrigen fernhalten wollen, ist leichter zu ver­gessen. Haben wir nun doch das Bild prekärer Lebenslagen vor Augen, mag das dazu taugen, sich der eigenen guten Lage bewusst zu werden und sich wohl zu fühlen. Führt dies zu einer gewissen Dankbarkeit und motiviert es zum Teilen des Wohlstands, ist wenig dagegen zu sagen. Für mich hoffe ich, dass mir das Erleben in der Frankfurter Fußgänger­unter­führung dazu ver­helfen kann, mir die Verant­wortung in Erinnerung zu rufen für die Art und Weise, wie ich meine Lebens­zeit und Lebens­möglichkeit nutzte. Und es könnte mich auf Gedanken bringen, dass ich manche Dinge, die heute für mich noch im Dunkeln liegen, durchaus sehen kann, wenn es gelingt, an der richtigen Stelle ein Licht anzu­schalten. Dann ragt das Jenseits der anderen vielleicht doch ein Stück in meine Welt hinein.

Der Psychodrama­gründer J.L. Moreno war jüdischer Abstammung. In seiner therapeutischen Philosophie, die auch durch christliches Gedanken­gut beein­flusst ist, geht er von einer Welt­vorstellung aus, in der alle Geschöpfe miteinander verbunden sind, in der die Subjekte immer wieder Wahlen zu treffen haben, mit wem sie in eine engere oder weitere, direkte oder indirekte Beziehung treten wollen und dabei von kaum bewussten Gefühlen der Zu- oder Abneigung beeinflusst sind. Interaktive Begegnung spielt hierbei eine große Rolle. Moreno glaubt an die Möglichkeit der wechselseitigen Einfühlung von sich begegnenden Personen, auch über sprach­liche und kulturelle Grenzen hinweg. Nicht anders als für den Apostel Paulus in seiner spät­antiken Welt ist es in dieser Perspektive nicht zuerst eine Frage der Moral, nicht dessen, was zu tun oder zu lassen ist, sondern eine Frage des „wer bin ich?“ und „wer kann und will ich für dich sein in dieser uns gemeinsamen Welt?“, die von entscheidendem Belang ist. Dass diese Fragen von einem mensch­lichen Du selten in gespiegelter Weise beantwortet werden (d.h. z.B. mit wem ich am liebsten angeln gehen würde, täte dies seinerseits mit mir vielleicht gar nicht gern), ist eine hinzunehmende, wenn auch oft schmerzliche Tatsache, die von Moreno besonders beachtet wurde. Als Christin heißt für mich „Gott“ eine Instanz und Dimension meines Lebens, die Da-Sein, Für-Sein, Liebe bedeutet, auch wenn ich nicht in jedem Augenblick mir meiner Einsicht, meiner Entscheidung und meines Glaubens sicher bin. Das nimmt mir die Verantwortung meines Handelns nicht ab, macht mir aber das Los­lassen von eitlen Sicht­weisen so manches Mal ein Stückchen leichter.

Antje Martina Mickan

 

Literatur

Hutter, Christoph (2000): Psychodrama als experimentelle Theologie. Rekonstruktion der therapeutischen Philosophie Morenos aus praktisch-theologischer Perspektive, Münster.

Pokorný, Petr; Heckel (2007), Ulrich: Einleitung in das Neue Testament. Seine Literatur und Theologie im Überblick, Tübingen.

Reinmuth (2006), Eckart: Der Brief des Paulus an Philemon, Leipzig.


[1] (8)Διὸ πολλὴν ἐν Χριστῷ παρρησίαν ἔχων ἐπιτάσσειν σοι τὸ ἀνῆκον (9)διὰ τὴν ἀγάπην μᾶλλον παρακαλῶ, τοιοῦτος ὢν ὡς Παῦλος πρεσβύτης νυνί δὲ καὶ δέσμιος Χριστοῦ Ἰησοῦ.

[2] Deutet man den Begriff von 2 Kor 4,16(-18) her, wo Paulus von der Vergänglichkeit des äußeren und stetigen Erneuerung des inneren Menschen spricht, kann vermutet werden, dass er sich durch sein höheres Alter ein Stück näher an Gottes Ewigkeit sehen könnte.

Dezemberthema 2020:

Welcher Text zu einem Biblio­drama könnte sich in der Adventzeit wohl besser eignen als die Weihnachts­geschichte nach dem Lukas­evangelium – noch dazu, wenn als Aktions­ort eine Kirche zur Verfügung steht? Keiner. Das jeden­falls war die dominierende Ansicht in einem (hier thematisch bewusst nicht betitelten) Kurs mit Studierenden der Theologie, Religions­pädagogik und Religion im Kontext, den ich in jüngerer Vergangen­heit an einer deutschen Hoch­schule leitete. Ziel des konkreten Vorhabens war es, das Biblio­drama als eine Aktions­form und Methode mit ebenso bibel­didaktischen wie seelsorg­lichen Impli­kationen durch Auspro­bieren kennen­zulernen. Dafür bot sich besonders die Vor­weihnachts­zeit an, wenn die allgemeine Energie­kurve bzw. Arbeits­motivation üblicher­weise etwas instabil wird und praktische Abwechslung gut­tut. So war die Kurs­einheit gemeinsam beschossen worden. Dies geschah zwar nicht ganz einstimmig, denn es gab eine Unter­gruppe im Seminar, die Theorie­arbeit der Praxis vorgezogen hätte, aber die Über­stimmten akzeptierten die Entscheidung und zeigten sich arbeits­bereit.

Meine folgende exempla­rische Fallstudie zum Biblio­drama basiert auf authen­tischem Geschehen. Für den Darstel­lungs­zweck und auch zur erhöhten Wahrung der Anonymität von beschriebenen Personen sind allerdings typisierende Modifi­kationen von Einzel­heiten vorge­nommen worden. Bei den verwendeten Eigen­namen handelt es ich um will­kürliche, dem Alphabet folgende Zuord­nungen, die in keiner Weise zeichen­haft für die Charaktere stehen.

 

Die Seminargruppe im Überblick

Der Kurs setzt sich aus 14 Teil­nehmenden zusammen. Die meisten sind im Alter von Anfang bis Mitte Zwanzig. Nicht nur im Falle der Ent­scheidung für eine biblio­dramatische Aktion zeigt die Gruppen­struktur sich besonders durch zwei Pole charakte­risiert: einerseits durch diejenigen, die gerne anhand perfor­mativer Einheiten erfahrungs­bezogen lernten (was im ange­kündigten Kurs­konzept ausdrücklich vorgesehen ist) und anderer­seits diejenigen, die sich vorzugs­weise auf die Rezeption sowie Diskussion von Theorie und wissen­schaft­licher Literatur beschränken (wie sie es von den meisten Hoch­schul­seminaren gewohnt sind).

Frau Auer ist eine besonders engagierte Studentin. Sie zeigt ein starkes Interesse an Theorie­rezeption sowie -diskussion und kann nach eigener expliziter Bekundung auf praktische und noch dazu spielerische Ein­heiten gut verzichten. Sie ist jedoch insgesamt auffällig kooperativ und konzen­triert bei der Sache. Frau Bach kann als ihre stärkste, besonders praxis­affine Antagonistin im Kurs bezeichnet werden. Sie stellt sich bereits in der konstitu­ierenden Sitzung als „nicht-gläubig“, aber am Seminar­thema interessiert vor und bitte um Erlaubnis zur Teilnahme. Frau Bach bringt Erfahrungen im Bereich der psycho­sozialen Begleitung mit und möchte das Seminar gerne gemeinsam mit Frau Clar belegen. Beide verbindet offen­sichtlich ein Vertrauens­verhältnis, was in Hinsicht auf Gruppen­arbeit eine gewisse ‚Unzer­trenn­lichkeit‘ zur Folge hat. Auch Frau Clar gehört zu den­jenigen im Kurs, die sich aus­drücklich für einen höheren Anteil an praktischen, auspro­bierenden Formen einsetzen. Gleich­zeitig ist sie entschieden eine der aktivsten Dis­kutandinnen des Seminars. Herr Dorn zeigt sich an den Seminar­rändern aufge­schlossener und inter­essierter als bei den gemeinsamen Arbeit­seinheiten. Mehr nebenbei erfahre ich von seinem lang­jährigen ehren­amtlichen Dienst im Notfall­einsatz bei der Feuer­wehr. Das verbindet ihn mit Herrn Ehm, denn dieser hat vor dem Studium etliche Jahre haupt­beruflich im Rettungs­dienst­einsatz gearbeitet. Er ist mit über 30 Jahren der älteste und beruflich erfahrenste Kurs­teilnehmer und zeigt eine eher zurück­haltende Art mit der Neigung zu spät zu kommen. Die zweite Studentin (neben Frau Bach), die in der konstitu­ierenden Sitzung explizit nach einer Aufnahme­erlaubnis für das Seminar fragt, ist Frau Flüss. Nach abge­schossenem pädagogischem Studium ist sie nun im ersten Semester für Theologie einge­schrieben. Frau Flüss ist Roll­stuhl­fahrerin und bedarf auch fürs Schreiben einer Assistenz,so dass sie den Kurs in Begleitung von unter­schied­lichen jungen Frauen besucht. Auch sie gehört zu den Engagierteren im Seminar und bildet besonders oft eine Arbeits­gruppe zusammen mit Herrn Glas. Er studiert im Zweitfach Politik und ist besonders an inter­kulturellen Fragen unseres Seminar­themas interessiert, was sich nach eigener Aussage auch durch seine spanisch-deutsche Herkunft begründet. Schließich ist Frau Haas eine weitere Studentin, die im Kurs in besonderer Weise in Erscheinung tritt. Es handelt sich bei ihr um eine Studentin im letzten Semester vor der Examens­prüfung. Frau Haas benötigt den Seminar­schein eigentlich nicht mehr, sieht aber Möglich­keiten, durch eine Teilnahme auch etwas für ihre Prüfungs­vorbe­reitung tun zu können. Sie erscheint mitunter belastet von Arbeit und Prüfungs­druck und kommuniziert dies auch explizit.

Die weiteren Studierenden, die die personale Struktur des Kurses mit­prägen, im Folgenden aber nicht eingehend in ihrem Handeln verfolgt werden können, sind die selbst­bewusst auftretende Frau Inns, die das Seminar zusammen mit Herrn Jahn als Paar besucht. Frau Kron aus Nordost-Deutschland und Frau Lahn aus Südwest-Deutschland geben sich als Freundinnen zu erkennen. Wie Herr Mohn, einem Vater von zwei kleinen Kindern, befinden sie sich in einem höheren Semester des Studiums. Außerdem gehört noch Frau Nemm zum Kurs. Sie präsentiert sich als gründ­liche Arbeiterin an der Literatur, aufge­schlossene Mit­spielerin und doch hinsicht­lich ihrer persön­lichen Präferenz der Arbeits­weise mit Frau Auer soli­darisiert.

Die Weihnachtsgeschichte in Aktion

Als wir uns zu dieser Kurseinheit an der Kirchentür treffen, wissen die Studierenden eher im Groben, was unter dem Verfahren Bibliodrama zu verstehen ist. Das heißt, ihnen ist wenigsten bekannt: dass hierbei ein biblischer Text mit verteilten Rollen inszeniert wird, dass es dabei nicht darauf ankommt, den Text korrekt widerzuspiegeln, sondern beim Bibliodrama wird den spontanen Impulsen und Wahrnehmungen in einer selbst gewählten Rolle gefolgt. Diese Rolle kann sowohl durch einen personalen Handlungscharakter als auch durch ein charakteristisches nicht-personales Subjekt der Erzählung inspiriert sein. Wie im Psychodrama können in der Bühnenwirklichkeit des Bibliodrama beispielsweise auch Bäume, Werkzeuge oder Futterkrippen sprechen, von ihrer Bedeutung für die Handlungspersonen berichten und Wahrnehmungen aus ihrer speziellen Perspektive in Spiel einbringen. Wünschenswert ist, dass sich durch das Handeln in Identifikation mit einem biblischen Charakter und durch die in der Gruppeninteraktion hervorgerufenen Erfahrungen für die Akteurinnen und Akteure im Bibliodrama eine neue Sicht auf den Text wie auch eine neue Sicht auf Facetten des eigenen Selbst ergeben.

Bemerkenswert bei diesem Vorhaben ist zudem, dass das Spiel eines Stücks biblischer Tradition mit freier Wahl der möglichen Rollen durch die ganze Gruppe einem Typ des Soziodramas (vgl. Stadler 2014, S. 94-100) entspricht. Und gerade die Weihnachtsgeschichte nach dem Lukasevangelium ist durch den Kontrast der sozialen Rollen ihrer Handlungsfiguren geprägt. Macht und Ohnmacht sind einander gegenübergestellt, laden zur Deutung ein. Und die Szenerie eröffnet Schauplätze mit starker zeichenhafter Bedeutung. Somit eignet sich dieses Spielvorhaben in der Kirche auch dafür, der Gruppe die Möglichkeit zu geben, Aufschlüsse über ihre eigene Struktur zu gewinnen.

Im Seminar soll das Spiel zudem neue Erfahrungen mit einem Textraum und seiner Inszenierung im Bühnen-Spielraum ermöglichen, wobei in erkennbaren sozialen Rollen agiert wird. Sowohl durch das kirchliche Mobiliar der Bühne als auch durch die biblische Handlung sind Transzendenzbezüge in diesem Zeichenspiel von besonderer Relevanz und tragen dazu bei, dass unterschiedliche Bedeutungsebenen wahrnehmbar werden.

Ankommen und erstes Aufwärmen

Die Kirche ist an diesem Tag nicht so kalt wie befürchtet. Es ist möglich schon bei der ersten Raumerkundung die Jacken auszuziehen. Unser ‚Spielraum‘ besteht aus einem einzigen langen Kirchenschiff mit einem Absatz zum Chorraum mit Altarbereich vorn und zum leicht erhöhten Orgelbereich mit Orgelspieltisch hinten. Rechts vor den Bankreihen über den Altarstufen befindet sich die Kanzel, links am oberen Ende der Stufen ein Lesepult und dort unterhalb des Treppenabsatzes ein Klavierflügel. Der Mittelteil des Kirchenschiffs ist mit Bankreihen gefüllt, die wie üblich durch einen Gang getrennt sind, so dass eine Achse von der Orgelbank bis zum Altar verläuft. Nach ausreichend Zeit zum Umsehen fordere ich die Studierenden auf, sich einen Ort zu suchen, an dem sie sich momentan in dieser Kirche am wohlsten fühlen. Es folgt ein Angebot mitzuteilen, was gerade dort, gerade jetzt so ansprechend sei. Die Gruppe teilt sich auf diese Weise individuelle Sehmöglichkeiten an den gewählten Orten mit und nutzt die Gelegenheit auch für eine Art ‚Blitzlicht‘ zur augenblicklichen Befindlichkeit.

Das Spiel zur Weihnachtsgeschichte gliedert sich nun in drei Phasen: 1. Das Vorlesen des Textes und ein Einstieg in dessen Dynamik; 2. eine Vorauswahl möglicher Rollen und Orte; 3. die Wahl der Rollen und das Spiel der Szene.

Texttraum in Bewegung

Eine Vorbereitungsgruppe hatte sich bereits mit den Versen 1 bis 20 des zweiten Kapitels im Lukasevangelium befasst. Von diesem Zweierteam waren exegetische Fragen geklärt worden. Es hatte die verwendeten Subjekte darauf hin hinterfragt, ob von ihnen charakteristische Impulse für ein Rollenspiel zu erwarten wären, und es hatte den Text in Unterabschnitte segmentiert, die je einzelne Aktionseinheiten bzw. -zusammenhänge umfassen. Die beiden so präparierten Studierenden leiteten nun den ersten gemeinsamen Arbeitsschritt am Text. Dazu gehörte das Lesen und Hören der Weihnachtsgeschichte, das Herausarbeiten der beim Hören als besonders handlungsbestimmend wahrgenommen Verben sowie das Visualisieren dieser Tätigkeitswörter, indem sie auf Moderationskarten notiert und auf dem Kirchenfußboden für alle lesbar ausgelegt wurden. Anschließend fand ein Sortieren dieser zunächst auf spontanen Zuruf festgehaltenen Begriffe in einer zeitlichen Ordnung statt, so dass sie in ihrer Abfolge einen Handlungsfluss widerspiegelten. Dabei wurde auf Wiederholungen von im Text mehrfach vorkommenden Verben verzichtet.

Ergebnis der Textarbeit:

Neue Lutherbibel: Evangelium nach Lukas

Handlungsbegriffe

2:1 Es geschah aber in jenen Tagen, dass ein Gebot von Kaiser Augustus ausging, dass sich die Bewohner der ganzen Welt in Steuerlisten einschreiben lassen müssten.

2:2 Diese Volkszählung war die allererste und geschah zur Zeit, als Quirinius Statthalter in Syrien war.

2:3 Da ging jeder, um sich einschreiben zu lassen, jeder in seine Stadt.

einschreiben

2:4 Da machte sich auch Josef aus Galiläa auf, aus der Stadt Nazareth, nach Judäa zur Stadt Davids, die Bethlehem heißt, weil er vom Haus und Geschlecht Davids war,

2:5 um sich einschreiben zu lassen mit Maria, seiner verlobten Frau, die schwanger war.

sich auf-machen

schwanger-sein

Und als sie dort waren, kam die Stunde der Geburt.

2:7 Und sie gebar ihren ersten Sohn, wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe; denn sie hatten sonst keinen Raum in der Herberge.

gebären

keinen Raum haben

2:8 Und es waren Hirten in derselben Gegend auf dem Feld, die hüteten des Nachts ihre Herde.

2:9 Und sieh, ein Engel des Herrn kam zu ihnen, und die Herrlichkeit des Herrn umleuchtete sie; und sie fürchteten sich sehr.

2:10 Da sagte der Engel zu ihnen: »Fürchtet euch nicht! Seht, ich verkünde euch große Freude, die dem ganzen Volk widerfahren wird;

2:11 denn euch ist heute in der Stadt Davids der Heiland geboren, der Christus der Herr ist.

2:12 Und das nehmt als Zeichen: Ihr werdet das Kind finden, in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegend.«

wachen

umleuchten

sich fürchten

verkündigen

sich freuen

 

2:15 Und als die Engel von ihnen zum Himmel zurückgekehrt waren, sagten die Hirten zueinander: »Lasst uns nun nach Bethlehem gehen und diese Sache sehen, die da geschehen ist, die uns der Herr kundgetan hat.«

2:16 Und sie kamen eilends und fanden beide, Maria und Josef, dazu das Kind in der Krippe liegend.

loben

eilen

finden

2:17 Als sie es aber gesehen hatten, breiteten sie das Wort aus, das von diesem Kind zu ihnen gesagt worden war.

2:18 Und alle, die es hörten, wunderten sich über das, was die Hirten ihnen gesagt hatten.

2:19 Maria aber behielt alle diese Worte und bewegte sie in ihrem Herzen.

2:20 Und die Hirten kehrten wieder um, priesen und lobten Gott für alles, was sie gehört und gesehen hatten, wie es zu ihnen gesagt worden war.

Worte im Herzen bewegen

 

Der Beginn mit einem Einfühlen in die Dynamik des Textes, anstatt in die Rollen­charaktere hat den Vorteil, dass die Gruppe so leichter in Bewegung zu bringen ist, um Spontaneität und Kreativität anzu­wärmen. Dazu gehört beim Biblio­drama der handelnde körper­liche Ausdruck hinzu. Wie sieht es aus und wie fühlt es sich wohl an, in der benannten Weise zu handeln bzw. sich in dieser Lage zu befinden? Und was steht dabei augen­blicklich auf dem Spiel, welcher Umschlag des Geschehens ins Gegenteil könnte drohen? Um für diese Aspekte ein Gespür zu entwickeln, war es nun Aufgabe des Kurses, für jeden der festgehaltenen Hand­lungs- bzw. Zustands­begriffe ein ent­sprechendes Antonym zu überlegen und für beide einen typischen körper­lichen Aus­druck zu finden. Ermög­licht wurde dabei auch eine erste Beachtung der Handlungs­subjekte der Erzählung, und zwar durch die in freier Wahl geschehende Gruppen­einteilung in einerseits Hirten und Engel mit ihren Aktionen entsprechend der Verse 8 bis 16 sowie in alle übrigen Figuren der Verse 1-7.17-20.

Auswahl des Kurses an dynamischen Begriffen und ihren Gegenbegriffen:[Gruppe 1 „alle anderen“:] einschreiben – ausradieren → sich-auf-machen – sitzenbleiben →  schwanger-sein – leer sein → gebären – sterben → keinen Raum haben – sich frei ausbreiten → [Gruppe 2 „Hirten und Engel“] wachen – schlafen → umleuchten – verdunkeln → sich fürchten – beruhigt sein →verkündigen – geheim halten → sich freuen – traurig sein → loben – tadeln → eilen – trödeln → finden – verlieren [Gruppe 1 „alle anderen“:] Worte-im-Herzen-bewegen.

Die Präsentation des Ergebnisses erfolgte dann so, dass immer zwei Studierende gemeinsam agierten und den gegen­teiligen Handlungen Ausdruck verliehen. Für die gesamte Gruppe kam es dabei darauf an, dass zu jedem dynamischen Begriff und Antonym eigene Dar­stellungs­sequenzen erfolgten, die sich in der festge­stellten chrono­logischen Reihen­folge aneinander­schlossen. Ob sich Gruppen­mitglieder dabei ab­wechselten oder von einzelnen mehrere Begriffe nach­einander in Bewegung umgesetzt würden, war freige­stellt.

Der Kurs benötigte etwa zehn Minuten zur Vorbe­reitung. Dann wurde in einer Folge von kaum mehr als drei Sekunden pro Sequenz unter Beteiligung aller Teil­nehmenden die Dynamik der Geschichte einmal durch­gespielt. Als bemerkens­wert stellten wir im Anschluss an diese Aktion bei einer Reflexions­runde fest, wie scheinbar nahtlos sich die Handlungs­einheiten aneinander geschlossen hatten, so dass eine fließende dramatische Spannung zu erleben war, die schließlich in einem Bild zum Abschluss kam, denn die zuständige Arbeitsgruppe wollte dem letzten Begriff, „Worte-im-Herzen-bewegen“, kein Antonym entgegen­setzen. So schloss das Spiel mit einer stand­bild­artigen Haltung, die durch zwei über der Brust über­einander gelegten Hände eine Form der Inner­lichkeit zum Ausdruck brachte.

Eine weitere Zwischenfrage richtet sich auf das Gefühls­erleben bei dieser Aktion. Was die Studiere­nden am stärksten als Empfindung berichteten, war etwas Mächtiges und ein in Gefahr Hin-und-her-gerissen-Sein bis zu dem Punkt, an dem Geburt und Sterben verkörpert wurden. Dann habe es Unordnung gegeben bis schließ­lich alles still und irgendwie gut war. Es hatte eine körperliche Begegnung mit der Erzählung statt­gefunden, die an eigenes erinnertes Erleben anschluss­fähig ist.

Den Text umräumen und Raum einrollen

Nun gehen wir an die Frage heran, welche Rollen in unserem Spiel besetzt werden sollen und welche Orte für die Rollen sowie für die Geschichte überhaupt von besonderer Bedeutung sind. Die Studierenden fordere ich dazu auf, aus einem Vorrat an farbigen Tüchern eine Auswahl zu treffen, diese Tücher an einer konkreten Position im Kirchen­schiff abzulegen und der Gruppe kurz zu beschreiben, für welche Bedeutung Tuch und Position zeichen­haft stehen. Wir räumen also gewisser­maßen das Text­inventar in unseren Bühnen­spielraum ein und probieren dabei auch schon einmal eine Charakter­rolle aus. Das Ganze läuft recht flott, teils werden für Orts­beziehungen der Rollen auch Alternativen benannt: Frau Auer beginnt und greift sich entschlossen ein bereits zu einem Ring geschlungenes, glänzend rotes Tuch ‒ das stehe für die Macht des Kaisers ‒ und geht längs durch die Kirche zur etwas erhöht stehenden Orgel­bank. Indem sie das Tuch dort positioniert erhält die Bank die Rolle eines Throns. Und beim Zurück­kommen beschreibt sie den Mittel­gang als den für die Geschichte wichtigen Weg. In ähnlicher Weise werden nacheinander folgende Orte und Rollen besetzt: die Krippe beim Adventskranz unterhalb der Kanzel zusammen mit einem Tuch für Maria, das Lager der Hirten mit den Hirten selbst beim Klavierflügel und auch der Flügel selbst als Ort, wo die Engelrede gehört wird, sowie das Pult als himmlischer Ver­kündigungs­ort mit Engeln. Da in dieser Spiel­phase zwar schon eine inten­sivere Erwärmung für bestimmte Rollen, aber noch nicht die eigent­liche Rollen­wahl geschieht, verzichte ich darauf, dass die Tücher aus der Ich-Perspektive eingerollt bzw. vorgestellt werden.

Rollenwahl und Gruppenspiel

Während ich den Kurs einlade, noch einmal durch den Raum zu gehen und sich anzu­schauen, wie er nun einge­richtet ist, erläutere ich das weitere Vorgehen: dass jeder und jede sich jetzt intuitiv in eine Rolle und zu einem Ort seiner bzw. ihrer Wahl begeben möge, dass doppelte Besetzungen grund­sätzlich möglich seien, die Gruppe aber gemeinsam dafür verant­wortlich sei, dass alle für die Handlung unverzicht­baren Rollen besetzt seien und dass beim Spiel frei den eigenen Impulsen gefolgt werden dürfe, auch wenn dadurch die Geschichte einen ganz anderen Lauf nimmt als im Bibeltext. Dann begeben sich alle an eine Position ihrer Wahl und benennen noch einmal ihre Rolle, nun in Ich-Aussage. Frau Auer wählt die Rolle des Augustus, Frau Bach die des verkündenden Engels, Frau Flüss übernimmt die Rolle der Maria, Herr Glas die von Josef und von dem Esel gemeinsam, Herr Dorn positio­niert sich als Hirt auf den Stufen zwischen Verkün­digungs­ort (Pult) und Krippe (Advents­kranz), Frau Haas als anbetender Hirt vor der Krippe, Frau Nemm tritt als eine aus der Engel­schar mit zum Lesepult, der Rest des Kurses macht es sich als Hirten um und am Flügel unterhalb des Pults gemütlich.

Das Spiel beginnt mit dem energisch vorge­tragenen Befehl des ‚Augustus‘, ‚Maria‘ und ‚Esel-Josef‘ machen sich auf den Weg bis zu den Stufen unter­halb der nicht personal besetzten Krippe. Da stockt das Spiel. Ich interviewe erst ‚Maria‘, dann den ‚Esel-Josef‘. Es wird klar: die Lage ist ernst und die beiden wissen nicht wohin, sie haben keinen Ort und in unserem Bühnen­raum ist tat­sächlich dafür nichts ange­zeigt. Noch einen kurzen Moment lang geschieht nichts, auch Herr Dorn in der Rolle des Hirten auf der Treppe, der den Sich-hilfe­suchend-Umsehenden am nächsten ist, bewegt sich nicht. Dann steht entschlossen Frau Clar auf, verlässt ihre Hirten­rolle und wird zum Stall, der einladend bereit­steht. Jetzt läuft das Spiel weiter. ‚Esel-Josef‘ bringt ‚Maria‘ die Treppe hinauf zum ‚Stall‘ neben die ‚Krippe‘. ,Maria‘ gebiert mit einem gepressten Laut das Kind, während die ‚Hirten‘ ihre Schafe weiden, ihnen der ‚Engel‘ erscheint, mit wedelnd weißem Tuch „Gerechtigkeit für alle“ verkündet und schließ­lich der ‚anbetende Hirt‘ vor der Krippe kniet, während aus dem ‚Himmel‘ noch immer gewinkt bzw. die frohe Botschaft ausgerufen wird. Ich beende das Spiel, bitte die Akteurinnen und Akteure, sich noch einmal umzu­schauen, dann zu entrollen und die Bühne abzubauen.

Ergebnisse und Ausblicke

Die Integrations- bzw. Auswertungs­runde findet noch in der Kirche statt. Ich gebe zuerst Gelegenheit mitzu­teilen, ob die Studierenden in ihren Rollen etwas Besonderes erlebt haben, und stelle die Frage: „Gab es ein bestimmtes Gefühl oder einen bestimmten Gedanken, der Sie vielleicht überrascht hat, neu war oder den sie aus einer anderen Situation kennen?“ Frau Auer äußert das intensive Empfinden von Macht, ganz oben in der Hierarchie zu stehen, zu herrschen. Frau Bach teilt mit, dass sie das Gefühl hatte, etwas ganz Wichtiges zu tun, selbst wenn sie mit ihrem Auf­treten nicht so viel erreichen könnte. Sie gibt der von ihr gespielten Rolle als Verkün­digungs­engel eine sozial­politische Bedeutung, derjenigen von Demonstranten vergleich­bar. Herr Dorn teilt mit, er sei ganz in seiner Hirten­rolle gewesen und habe nicht den Impuls gehabt, irgend­etwas tun zu müssen, für irgend­etwas verant­wortlich zu sein. Frau Clar dagegen zeigte sich froh darüber, in die Rolle des Stalles gewechselt zu sein. Dort hatte sie das Gefühl, etwas zu ermöglichen, gebraucht zu werden und auch Schutz bieten zu können. Herr Glas meinte, ihn habe an seiner Rolle zuerst der Weg ange­sprochen. Es sei gewesen, wie zwischen Spanien und Deutsch­land mit viel Gepäck hin und her zu reisen inklusive Wartezeit. Aber als das Kind da war, sei ihm das Ganze endlich einmal sinnvoll vorge­kommen, wie angekommen. Frau Haas schließ­lich meinte, sie habe sich beim Anbeten des Jesus­kindes gar nicht richtig freuen können. Das sei Weihnachten oft so, wie auf Kommando ginge das mit dem Freuen für sie nicht. Außer­dem hatte sie den Augustus im Rücken, dessen Befehl sie so sehr an die mächtige Büro­kratie erinnert habe, mit der sie sich gerade für ihre Examens­meldung herumschlagen musste. Frau Haas wirkt erschöpft und bedrückt. Nach diesen auch persönlichen Erfahrungen, die geäußert wurden, entscheide ich, nicht noch eine auf die Gruppen­struktur oder Theologie der Erzählung bezogene Frage zu stellen, sondern entlasse den Kurs aus dieser intensiven Arbeitseinheit. Das im Spiel Erfahrene wird die Studierenden sicher noch eine gute Zeit (mehr oder weniger) beschäftigen.

Die Herausforderung, die sich im Semester­verlauf nun stellte, war es, passende Angebote zu offerieren, wie mit den Ergeb­nissen dieser Spiel­einheit weiter­gearbeitet werden kann. Statt über die von mir und dem Kurs tatsächlich gewählten Anschlüsse Auskunft zu geben, seien hier lediglich einige Auswertungs­fragen und schließ­lich auch Vermutungen aus meiner subjektiven Beob­achtungs­perspektive benannt: Was bedeuten die zwei weit entfernten Pole im Raum, die Positionen von ‚Augustus‘ und dem ‚Verkün­digungs­engel‘ für die Studierenden bzw. für ihre Text­inter­pretation? Sahen die Teil­nehmenden im Geschehen einen Ort, wo in subjektiver Sicht etwas Heiliges Gestalt gewann oder überhaupt thematisiert wurde? Was haben die ‚Hirten‘ eigentlich für eine Botschaft gehört? Was hat es bewirkt, dass das Spiel in der Kirche stattfand? Und natürlich: Gibt es eine theologische Aussage, die in einer konkreten Spiel­situation jemandem im Kurs besonders ein­leuchtend erschien? Insofern Aspekte der Selbst­erfahrung ein Stück weit als Bestandteil des Semirar­themas vereinbart waren, wären auch Mitteilungen dazu anzuregen, ob das eigene Spiel jemandem etwas über die eigene Rolle im Kurs oder Studium verdeutlicht habe? Einige meiner  auf die soziale Gruppen­struktur bezogene Hypothesen sind, dass sich hier quasi Parteien der Theorie und Theologie einerseits, andererseits der Praxis und einer Spielart atheistischer Spiritualität gegen­überstanden und so quasi die Enden des Spannungs­bogen der Performanz in Händen hielten, dass die scheinbar körperlich Schwächste die Schwerarbeit geleistet und sich möglicherweise einen Wunsch erfüllt hatte, dass genau diejenigen, die im Kurs üblicher­weise für das Vorankommen sorgen, auch das Spiel je auf ihre typische Weise voran­gebracht hatten und dass für diejenige, die anbeten wollte und doch keine Andacht fand, sich eine Frage nach Erlösung, erst einmal von Druck und Sorgen, nach diesem Erleben neu stellen könnte. Andererseits zeigte sich mir in dieser erspielten biblischen Erzählung die schlichte und dennoch bedeutende Erkenntnis, von welch anderer, befreiender Art die Macht des Jesus­kindes ist, die sich von selbst im Herzen leicht, schön, wohltuend bewegt und wie sehr ich bei meinem Handeln in weltlichen Zwängen ihrer bedarf.

Antje Martina Mickan

 

Literaturhinweise

Aigner (2013), Maria Elisabeth: Inszenierte Entdeckungspraktiken. Bibliodrama und Bibliolog an der Bruchstelle von Kultur und Religion. In: Herder-Korrespondenz. Monatshefte für Gesellschaft und Religion, Band 67, Heft 10, Freiburg im Breisgau, S. 525-528.

Aigner (2015), Maria Elisabeth: Bibliodrama und Bibliolog als pastorale Lernorte, Stuttgart.

Immich, Doris; Gremmels (32006), Christian: Spielarten des Bibliodramas. In: Bosselmann, Rainer; Lüffe-Leonhardt, Eva; Gellert, Manfred (Hg.): Variationen des Psychodramas. Ein Praxishandbuch — nicht nur für Psychodramatiker, Meezen, S. 375-382.

Knist (32006), Franz-Josef: Einzelarbeit in der Bibliodramagruppe. In: Bosselmann, Rainer; Lüffe-Leonhardt, Eva; Gellert, Manfred (Hg.): Variationen des Psychodramas. Ein Praxishandbuch — nicht nur für Psychodramatiker, Meezen, S. 383-391.

Pfaffenwimmer (2014), Barbara: Bibliodrama — ein Handlungsraum zur Veränderung von perfekt-spirituellen Rollenerwartungen. In: Zeitschrift für Psychodrama und Soziometrie, Heft 13, Wiesbaden, S. 83-93.

Stadler (2014), Christian: Psychodrama, München.

Tobler-Schkölziger (2015), Marianne: Playback-Theater — ein dynamischer Spiegel. In: Zeitschrift für Psychodrama und Soziometrie, Heft 14, Wiesbaden, S. 311-324.

Ergebnis der Textarbeit:

Novemberthema 2020:

November ist im Christentum tradi­tionell der Monat, in dem Gedanken an Sterb­lichkeit und Verstorbene einen besonderen Ort haben und miteinander geteilt werden. Während die Praktiken des Miteinander-Teilens aufgrund der aktuellen Pandemie-Situation starke Reglemen­tierungen erfahren, steht doch die Thematik gleich­zeitig intensiviert im Raum.

Aus diesem Anlass habe ich als Thema dieses Monats die Frage nach dem Jenseits des Todes in den Vorstel­lungen der Menschen von der Antike bis heute gewählt. Beim folgenden Text handelt es sich nicht um einen explizit praktisch-theologischen, sondern religions­geschichtlich-soziologisch orientierten Aufsatz von mir (Mickan 2019), der erstmalig in dem Band „Zwischen Leben und Tod. Sozial­wissen­schaftliche Grenzgänge", heraus­gegeben von den Soziologen Thorsten Benkel und Matthias Meitzler, erschienen ist.

Post­­morta­litäts­­­vorstel­lungen in Ver­gangen­heit und Gegen­wart

Einleitung

Was bedeutet der Tod für den Menschen? Fast alle Religionen und welt­anschaulichen Konzepte tradieren Antworten zu dieser Frage mit einem mehr oder weniger ausge­prägten Anspruch auf Wahrheit, gerade hinsichtlich damit verbundener Aussagen über ein mögliches, irgendwie geartetes Leben nach dem Tod (vgl. Ahn 2001: 15f.). Entsprechend gehören Todes­deutungen auch zum Kern­bestand ›europäischer‹ philosophischer Anthro­pologie­­diskurse von der Antike bis zur Gegenwart. Zu letzteren hat Anton Hügli eine Typologie verfasst. Seinen philo­sophie­geschicht­lichen Aufsatz, der das weite Thema auf eine überschaubare Zahl von wieder­kehrenden Gedanken­figuren konzentriert, beendet er mit einer kritischen Frage an den Ertrag seiner Arbeit: »Sagt letztlich der Tod nicht weit mehr über die Philosophie als die Philosophie über den Tod?« (Hügli 1972: 28) Gleichwohl Hügli zur Wahrheit über das postmortale Schicksal des Menschen ebenso wenig einen Beitrag leisten wie die Entwürfe einzelner Philosophen in ihrer ganzen Differen­ziertheit darstellen wollte, ist es ihm gelungen, aus den historischen Diskursen Denkmodelle heraus­zuarbeiten, die Rückfragen an ihre Funktion und kontextuelle Zusammen­hänge ermöglichen.[1] Angesichts der gegenwärtigen Pluralisierung von Todesbildern in den westlichen Gesell­schaften sollte es lohnenswert sein, in soziologischer (An-)Wendung hier anzuknüpfen und auch über das soziale Ermöglichungs­potential, über die soziale Funktion gesellschaftlich kommuni­zierter Konstruk­tionen des Weiterlebens nachzudenken. Bei der gegebenen Weite, Tiefe und differenzierten Verflochten­heit dieses Themas, dessen einiger­maßen gründ­liche Bearbeitung mehrere Bände benötigte, muss ein Aufsatz freilich im Rahmen des Auf­zeigens einer kleinen Detail­auswahl bleiben (vgl. Zander 2016: S. 57ff.). Ein regional konzen­trierter religions­geschichtlicher Überblick zur Herkunft und Entwicklung kultureller Bilder der menschlichen Nachtod­lichkeit in stärkerer Anlehnung an die Auswahl und Darstellung von Gregor Ahn (2001) kann hierzu eine Basis bieten.

In den Film- und Computer­spielwelten verschwimmen heute die Grenzen zwischen Leben und Tod vielfach (vgl. Ahn et al. 2011; Ahn 2011; Rakow 2011; Meier 2017). Gleichzeitig ist gesellschaftlich eine natur­wissenschaftliche Sichtweise dominierend und anhand der im Biologieunterricht erlernbaren Kennzeichen des Lebens (grob: Reizbarkeit, Bewegung, Wachstum, Stoffwechsel, Fortpflanzung) erscheint eine klare Trennung von lebend oder tot als verhältnis­mäßig eindeutig vor­nehmbar (vgl. Birnbacher 2017: 7ff.). Um auf dies­bezüglich dennoch bleibende Heraus­forderungen einen etwas differen­zierten Blick werfen zu können, soll bei der Unter­suchung der historischen Diskurse mit beachtet werden, in welchem Spannungs­verhältnis ›Leben‹ und ›Tod‹ in den jeweiligen Konzepten einander begegnen. In dieser im Folgenden traktierten Perspektive hat das Thema Post­mortalität nur noch indirekt etwas mit Metaphysik zu tun. Bemerkens­werterweise ist sie der Soziologie nicht fremd. Denn wenngleich kulturelle Konzepte über das nachtodliche Schicksal der Menschen traditionell inner­halb der Religionen weitergegeben sowie innerhalb der philosophischen Anthropologie reflektiert und entwickelt werden, gehört doch das Weiterleben (der einen) nach dem Tod (der anderen), also die über Sozialisation erfolgende Verkettung der Generationen als Grund­gedanke zur Entstehung des Faches Soziologie (Comte) hinzu (vgl. Fuchs-Heinritz 2007: 15ff.).

Als Post­mortalitäts­konzepte und Konstruk­tionen des Weiter­lebens werden in diesem Artikel menschliche ›Erfindungen‹ untersucht, in welche – insbesondere seit Beginn der Moderne – natur­wissen­schaftliches Wissen und subjektive Erlebnisse zwar mit einfließen können, die aber wesentlich auf kulturell tradierten sowie mit Sinn­konzepten verbundenen Vorstel­lungen und Praktiken basieren. Sie haben damit zumindest potenziell Anteil an der Ausbildung von Identität und Moral von Gemein­schaften. Ob Klaus Feldmanns (2010: 123) Statement für die Gegenwart: »Unsterblich­keits­annahmen sind Privat­angele­genheit geworden, die sich im sozialen Handeln des Menschen kaum auswirken« bei einer weiter gefassten Deutung von Unsterb­lichkeit standhielte, darf angesichts der massenhaft kommunizierten Sehnsucht nach ihr bezweifelt werden. Anzumerken ist in diesem Zusammenhang auch, dass eine Entwicklung von Sozialität nicht ohne eine Entwicklung der Deutung ihres (irdischen) Endes auskommen kann (vgl. Benkel 2016a: 8).

 

Europäische Post­mortalitäts­vorstel­lungen im religions­geschicht­lichen Überblick

Für die Kommunikation und das Erlernen von Post­mortalitäts­konzepten stellen Mythen und Riten zentrale Medien dar (siehe z.B. Brück 2007: 31ff., 129f.). Mythen vermitteln in bildhafter Sprache Sinn­zusammen­hänge und Werte, sie bieten zeichen­hafte Charaktere und Erzähl­stränge, die Identifikationen ermöglichen. Eine hieran anknüpfende und diese Narrationen wiederum zeichen­haft aufnehmende rituelle Praxis schafft darüber hinaus eine Struktur zum gemeinsamen Erleben und ist für die Ausbildung von Gruppen­bindungen funktional. Als Quellen religions­geschicht­licher Forschung zu Modellen nach­todlicher Existenz­weisen sind daher neben textlichen Über­lieferungen archäologische Ausgrabungs­funde an historischen Bestattungs­stätten von großer Bedeutung. Speziell brauch­tümliche, eher mündlich-praktisch weitergegebene Vorstel­lungen über das Sein der Verstorbenen konnten so rekonstruiert und damit bestätigt werden, dass auch in den über Jahr­hunderte christlich dominierten Regionen des heutigen Europas sich die Geschichte der Todes­deutungen komplex gestaltete und neben dem christlichen Auferstehungs­glauben seit der Spätantike auch germanische, keltische und andere Modelle mündlicher Kulturen präsent waren (vgl. Ahn 2001: 13ff.). Da im Zuge der Überlieferung allerdings häufig eine christliche Färbung der heidnischen Vorstellungen erfolgte, stellt sich selbst bei schriftlichem Quellenmaterial die Forschungslage immer noch als schwierig dar (vgl. Zander 1999: 16, 153).

Keltische und germanische Todesdeutungen

Erst seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat sich ein religions­wissenschaftlicher Konsens herausgebildet, wonach die Vorstel­lungen der Germanen und Kelten von einem Weiter­leben nach dem Tod nicht mit einem dualistischen Menschenbild, also einer Unter­scheidung von Körper und Seele verbunden waren (vgl. Ahn 2001: 14). Stattdessen geht man heute bei diesen Stammes­kulturen von Gedanken an eine mit dem Tod erfolgende Transfor­mation der Gestalt aus, so dass der ganze Mensch einschließ­lich seiner Kleidung und Ausrüstung ins Toten­reich übergehen oder auch im Grab unter Verwen­dung der Grab­beigaben ›leben‹ konnte (vgl. Ahn 2001: 19; Zander 1999: 153f.). Tot oder lebend bedeutet damit eine aktive Zuge­hörigkeit zu unterschied­lichen ›Gesell­schaften‹ in unter­schiedlichen Welten. Relationen Verstorbener zu Lebenden galten aber besonders im Umkreis des Grabes als möglich. Und auch bei mittel­alterlichen oder gar späteren Vorstel­lungen, die sich durch diese Traditionen beein­flusst sehen, stellt die Multi­lokalität von Toten – etwa im Grabhügel liegend die Landschaft zu überblicken und gleich­zeitig im Toten­reich zu feiern – offenbar keinen Wider­spruch dar. Archäo­logische Funde an keltischen Grab­stätten wie Amulette oder Fesselung und Pfählung von Leichen weisen zudem auf eine schon damals gehegte Angst vor Wieder­gängern hin, die im deutsch­sprachigen Raum bis ins frühe 20. Jahrhundert, dann sicher mit anderer Interpretation verbunden, belegt ist (vgl. Ahn 2001: 19f.; Sörries 2012: 67ff.; Zander 1999: 154f.).

Keltische und germanische Vorstellungen vom nach­todlichen Leben werden heute vorzugsweise in Abgrenzung zum christ­lichen Auferstehungs­konzept verstärkt in esoterischen Kreisen aufge­griffen bzw. es werden Konzepte als von hierher stammend ausgegeben, was aufgrund der schwierigen Forschungs­lage umso leichter möglich ist.[2] Sie sind nicht selten »aus Synthesen mit asiatischen resp. westlichen Reinkarnations­konzepten oder in Anknüpfung an säkulare Unsterblich­keits­modelle entstanden« (Ahn 2002: 19). Nach­weislich zu keltischen und germanischen Traditionen gehören Reinkarna­tionen aber nur bedingt. Belegt sind lediglich germanische Vorstel­lungen vom Weiterleben von Eigen­schaften Verstorbener in den Nach­kommen, was etwa durch den gleichen Namen quasi vermittelt gedacht wurde (vgl. Zander 1999: 156ff.). Wenn bei aktuellen Befragungen von Personen, die an einer besonderen Stätte für ihre eigene antizipierte Beisetzung interes­siert sind, als Auswahl-Motive die schöne Aussicht, gute Lage oder der Vorteil, vom Urnenfach aus die Kirchen­glocken hören zu können, genannt werden (vgl. Klie / Klie / Hartmann 2017: 40f.), klingt eine Nähe zu germanischen Konzepten an. Der Tod bedeutet so das Wechseln in einen anderen Modus mit allerdings geringerer Bewegungs­freiheit und auf Zeit, zumindest solange die Grabstätte für die Verstorbenen gemietet ist.

Exemplarische antike Deutungen des Todes als Schranke

Die in zweifacher Weise möglichen Per­spektiven von Todes­deutungen, zum einen als Vorstel­lung des eigenen Todes, zum anderen als Beob­achtung des Todes anderer, spiegeln sich bereits in den antiken Mythen und Diskursen wider. Hügli (1972) unter­scheidet daher – als theoretisch zweck­dienliche Trennung und im Bewusst­sein mannig­faltiger Korrela­tionen – subjekti­vierende Sicht­weisen mit über­wiegendem Gebrauch subjektiver Begriffe von objektivierenden mit entsprechend überwiegend objektiven Begriffen. Seine Kategorie subjektivierender Todesdeutungen ist in Hinblick auf die Frage­stellung des Spannungs­verhält­nisses von Leben und Tod besonders geeignet, um eine erste Unter­scheidung vorzunehmen: Wird der Tod als Ende des Subjekts und als eine unüber­windliche Schranke gedacht, die eigentlich jedes weitere Spekulieren über ein Danach sinnlos erscheinen lässt, oder als eine Grenze zu einer anderen indivi­duellen oder über­indivi­duellen Existenz, zu welcher im gewissen Rahmen Aussagen getroffen werden können, sich zumindest das Nach­denken lohnt? Zwei recht unter­schiedliche Beispiele zur ersten Deutungs­weise sollen nun aufgrund ihrer bleibenden Relevanz hervor­gehoben werden.

Im alt-mesopotamischen Gilgamesch-Epos ist der Held auf der Suche nach Unsterb­lichkeit (Thalgott 2011). Er muss den tödlichen Verlust seines Freundes Enkidu erleiden und reagiert mit heftiger Trauer, die er durch die Erstellung eines Bild­nisses, also einer zeichen­haften Repräsentanz (Belting 1996), zu überwinden sucht. Schließlich kommt Gilgamesch zur Einsicht seiner eigenen unüber­windlichen Sterb­lichkeit. Der Tod stellt sich für ihn nun also im Sinne einer Schranke dar, was im Epos zu einer Wendung Anlass gibt, die ohne den Blick vom anderen Individuum her nicht auskommt, jedoch den Möglich­keits­horizont erweitert: In seinen Werken kann Gilgamesch weiterleben und auf diese will er sich daher in seiner verbleibenden Lebenszeit konzentrieren. Man könnte dies als ein frühes Zeugnis des Modells parasozialer symbolischer Präsenz (Benkel 2016b) deuten.

Ein weiteres, heute als ›Schul­beispiel‹ dienendes Konzept, in dem der Tod als Schranke erscheint und das die subjekti­vierende Perspektive recht konsequent als ausschlag­gebend darstellt (vgl. Hügli 1972: 20f.), findet sich bei Epikur. Seine Sicht, der Tod gehe den Menschen nichts an, da er das Ende der Empfindung bedeute, so dass entweder das Subjekt da sei, nicht aber der Tod, oder, wenn dieser sich einge­stellt habe, das Subjekt nicht mehr da sei, verband Epikur mit einer Argumentation gegen die Todesfurcht und dafür, die lust­bringenden Chancen des augen­blick­lichen Lebens zu sehen und zu ergreifen (Hossenfelder 1991). Die Akzeptanz der Endlich­keit des Lebens, der Tod als Schranke, hat seit der griechischen antiken Philosophie auf der Basis von im Detail recht unter­schiedlichen Todes­deutungen, darunter auch christ­lichen, zur Entwürfen einer Kunst des Sterbens geführt (Imhof 1998). Noch immer schließen Reflexionen der Lebenssinn-Frage hier an (siehe z.B. Gehring 2013; Rentsch 2016). Im weiteren Sinne kann man auch Konzepte, die den Tod als Moment des Lebens verstehen (vgl. Simmel 2001; Heidegger 1967: 242ff.), in dieser Linie sehen.

Antike objektivierende Todes­deutungen in Israel und Griechenland

Die stärksten Impulse für die Entwicklung der christlichen, von der Spätantike bis weit in die Neuzeit hinein im ›Abendland‹ dominanten Modelle von einem Leben nach dem Tod gingen sicherlich von Post­mortalitäts­konzepten aus Israel und Griechenland aus (vgl. Ahn 2001: 23ff.). In der älteren Literatur beider Kultur­kreise sind Vorstel­lungen von der schattenhaften Fort­existenz Verstorbener in der ›Scheol‹ bzw. im ›Hades‹ zu finden. Die Darstellung dieser Daseins­formen bei Homer (Ilias und Odyssee) galt allerdings schon in der griechischen Anthropo­logie des 6. bis 4. Jahr­hunderts als trist (z.B. Muth 2010: 154ff.). Und zumal die Toten im antiken Judentum als fern von Gott gedacht werden, hat eine solche Existenz­weise in der Scheol kaum etwas mit der alttesta­ment­lich nachweisbaren Deutung von Leben zu tun (vgl. Groß 2012: 471; Wagner 2009). Die Lebenskraft des Menschen kehrt nach alttestament­licher Vorstellung[3] mit dem Tod wieder zu Gott zurück (vgl. Mickan 2015a: 137f.). Dass der Tod überhaupt erst in die Welt kam, wird gemäß Gen 2,15-17 und 3,19 im Judentum wie auch später im Christentum zum Teil als göttliche Strafe angesehen, erfährt aber schon innerhalb der kanonischen Schriften beider Religionen differenzierte Interpretationen (siehe z.B. Groß 2012: 465ff.; Hügli 1972: 14f.; Theobald 2012). Eine potenziell positive Deutung erhält der Tod im alten Israel zunächst nur für Individuen mit sehr besonderen Eigenschaften, indem sie entweder ›alt und lebenssatt‹ sterben (vgl. Mickan 2015a: 90ff.) oder sich durch besondere Taten und Werke im Leben auszeichnen, so dass ihr Name ins kulturelle Gedächtnis eingehen und die Person damit unsterblich machen kann.

Nicht zuletzt aufgrund der Unerreich­barkeit dieser Konzepte für durch­schnitt­lichere Männer und Frauen entstand im Judentum ein sozialer Druck oder zumindest eine Unzufriedenheit unter Theologen, was zu ihrer Weiter­entwicklung führte (vgl. Groß 2012: 480). Das Erleben von politischer und sozialer Ungerechtigkeit eines ganzen fremd­regierten, teils auch vertriebenen Volkes dürfte dann für die neuen Gedanken­modelle einer weltum­spannenden endzeit­lichen Verwandlung, die alles erlittene ungerechte Unheil für immer ausgleichen wird, in der jüdischen Apokalyptik des 2. bis 1. Jahrhunderts ausschlaggebend gewesen sein (vgl. Ahn 2001: 25f.). In diesen Konstruktionen der Zukunft – nicht allein nach dem Ende eines Menschenlebens, sondern über das Ende des Daseins einer Welt hinaus – ging es zentral um eine heilende, fundamentale Wandlung, die nicht als ›Weiterleben‹ im Sinne einer Fort­setzung bezeichnet werden kann. Vielmehr bildet sie ein inner­weltlich als unerreichbar erfahrenes Ideal des Lebens ab.

Zuvor war es im 6. bis 4. Jahr­hundert in Griechen­land innerhalb philo­sophischer Anthropo­logie­diskurse zur Entwicklung komplexer Post­mortalitäts­modelle gekommen, zu deren Systemati­sierung der bereits erwähnte Ansatz Anton Hüglis (1972) weiter­führend ist, und zwar in Form seiner Unter­scheidung der objekti­vierenden Deutungen, die den Tod als Rückkehr ins Ureine, im Kreislauf des Werdens, als Ortsveränderung, als qualitative oder quantitative Veränderung beschreiben. Während Hügli die ersten drei genannten Typen am deutlichsten bei den griechischen Vorsokratikern belegt findet, sieht er den letztgenannten erst in Konzepten ab der frühen Aufklärung bei Leibniz.

Die Vorstellung, dass der Mensch seinen Ursprung in einer unvergänglichen Ganzheit hat, zu der er im Tod zurückkehrt, wird nach Hügli (1972: 6ff.) exemplarisch von den ionischen Naturphilosophen entworfen. Diese monistische Gedanken­figur impliziert eine Nivellierung aller sozialen, kulturellen, individuellen Unter­schiede des Menschen mit dem Tod sowie eine die Menschheit und Welt verbindende Größe als höchsten Wert. „Das Entstehen und Vergehen der Einzel­gestalten ist das unwirkliche Spiel der Akzidenzien an der einen Substanz – gleich wie die ständig wechselnden und wogenden Wellen auf dem Meer, die nichts anderes sind als das Meer selbst“ (ebd.: 7). In auffälliger Nähe dazu stehen vor allem auf Heraklit (um 550 bis um 475) zurück­zuführende Konzepte, die von einem Kreislauf des Werdens ausgehen. Bei Heraklit trägt der Mensch immer beide Prinzipien, das des Lebens und das des Todes, anteilig in sich: »Lebendes und Totes und Waches und Schlafendes und Junges und Altes. Denn dieses ist umschla­gend jenes und jenes zurück­umschlagend dieses« (zit. nach Diels / Kranz 1951: 22, B 88). Auch hier kann von der Fort­existenz eines mit sich selbst identischen Subjekts nicht gesprochen werden. Das Spannungs­verhältnis zwischen Leben und Tod gleicht einem Wechselspiel: Beide »sind gleichsam Urformen aller Gegensätze, in denen sich der Kosmos entfaltet« (Hügli 1972: 8). Von Paulus in der späten Antike, zu den mittel­alterlichen Mystikern und zu den Natur­philosophen der Renaissance bis hin zum neuzeit­lichen deutschen Idealismus finden sich Anschlüsse an dieses Konzept in der geistes­geschicht­lichen Literatur.

Obwohl Heraklit den Begriff der Psyche verwendet, ist doch zu betonen, dass damit ebenso wenig wie bei den ionischen Natur­philosophen eine vom Körper zu unter­scheidende, selbständige Wesens­einheit des Menschen gemeint war (vgl. Zander 1999: 57f.). Auch bei Homer und im vorhelle­nistischen Israel ist ein solch dualistisches Lebens­prinzip – wie es die Voraus­setzung für eine Lehre der Seelen­wanderung und unsterb­lichen Seele bildet – nicht bekannt (Rösel 2009). Wirkungs­geschicht­lich entscheidend für das Modell der Metempsychose, also der Vorstel­lung von einem Wesens­kern des Menschen, der nach dem biolog­ischen Tod in den Leib eines anderen Menschen oder in einigen Entwürfen auch eines Tieres einzieht (was schon in der Antike Anlass zum Vegeta­rismus gab; Zander 1999: 59, 84), war Pythagoras (um 570 bis 497/96; vgl. ebd.: 58ff.). Entsprechend der Typologie von Hügli wird der Tod damit zu einem Orts­wechsel. Woher das Modell der Seelen­wanderung stammt, ist unsicher. Während Hügli (1972: 9) von einer Ein­wanderung eines indischen Mythos nach Griechen­land ausgeht,[4] gibt es u.a. auch Argumente für die schamanistische Theorie, dass es sich »bei der griechischen Seelen­wanderung um eine Weiter­entwicklung von außer­körperlichen Erfahrungen, Seelen­reisen« (Zander 1999: 71) handele, die dann in vorsokra­tischer Philosophie gedeutet wurde (vgl. ebd.: 69ff.).

Die griechische Vorstel­lung der Metempsychose ist von Konzepten zu unter­scheiden, bei denen die Verstorbenen als Ganzheit irgendwie trans­formiert an einen anderen, jenseitigen Ort wechseln. Sie birgt stets die Schwierigkeit einer wenig eindeutigen (Nicht-)Erhaltung der Identität des sterbenden Subjekts. Die Seelen­wanderung wurde von Platon (427 bis 347) in seinen mittleren und späteren Werken aufgenommen, verschiedent­lich variiert und am deutlichsten dahingehend umgewandelt, dass bei ihm – in Abhängigkeit vom jeweiligen Lebenswandel – die Psyche im besten Fall, statt in einem Tierkörper wieder­geboren zu werden, zur Insel der Seligen gelange (vgl. Ahn 2001: 29). Helmut Zander (1999: 74ff.) interpretiert Platons Aussagen zur Metempsychose als ein der „Staatsraison“ (ebd.: 80) geschul­detes Konzept. Nach negativen Erfahrungen mit der griechischen Demokratie seiner Zeit sei es ihm ein Anliegen gewesen, »eine unaus­weichliche Gerechtigkeit als Drohung und Verlockung für die Stabilisierung öffentlicher Ordnung fruchtbar [zu] machen« (ebd.: 80). Für die europäische Geistes­geschichte prägender war allerdings Platons Lehre von der Seele als einem präexistenten, eigentlichen Wesens­kern des Menschen. Hier sieht Hügli (1972: 9ff.) die Gedanken­figur des Todes als qualitativer Veränderung exemplarisch ausgeführt.

Anders als Pythagoras unter­scheidet Platon eine sinnliche und eine über­sinnliche Welt. Die Psyche gehört bei ihm zur Ideenwelt. Sie sei einge­staltig, etwas immer Gleiches und sie habe am Leben teil. Daraus folgt für Platon ihre Unsterb­lichkeit, denn sie könne nicht zugleich am gegen­teiligen Tod teilhaben (vgl. Ahn 2001: 24f.). So heißt es in Gorgias: »Der Tod ist, wie mir dünkt, nichts weiter als die Trennung zweier Dinge von einander, von Seele und Leib nämlich.« (Platon 1940: 405) Der sterbliche Leib stirbt und vergeht, die unsterbliche Seele aber löst sich erst zum eigent­lichen Leben. Alles Körperliche wird damit abgewertet und der Mensch sollte somit bereits vor seinem Tod ein geistiges (philo­sophisches) Leben führen. Platons Todes­deutung folgt seinem Welt­bild und hat umgekehrt aufgrund der ethisch-moralischen Implikationen und des wirkungs­geschicht­lichen Erfolges dieses Konzepts die Gestaltung des sozialen Miteinanders weiter Kreise beachtlich beeinflusst.

Todesdeutungen im ›christlichen Europa‹ bis zum frühen 20. Jahrhundert

Eine Vermischung – verkürzt gesprochen – griechischer, besonders platonischer Konzepte der Psyche und jüdisch-apokalyp­tischer Erwartungen eines trans­mundanen Heils­ereignisses findet sich in der neutesta­mentlichen Theologie des Paulus, dessen Schriften mit einer besonderen Beachtung des 1. Korinther­briefs bis zur Aufklärung »das beherrschende Paradigma des europäischen Post­mortalitäts­diskurses« (Ahn 2002: 26) blieben, immerhin jedoch bereits seit der Patristik quasi fortlaufend neu moduliert wurden (vgl. Hügli 1972: 14ff.). Die stärkste Reibung, welche das platonische Unsterblich­keits­paradigma in diesen Konzepten hervorrief, betraf die Spannung zwischen der Auferstehung und ihrer Voraus­setzung eines zuvor erfolgten Eintritts des Todes.[5] Insbesondere das Verhältnis von Leib und Seele wie auch die Begründungen des Todes erfuhren im theologischen Diskurs immer wieder anders gelagerte Interpretationen. Dabei wandelten sich die Vorstellungen vom ewigen Leben ›im Himmel‹ in Abhängigkeit von den soziokulturellen Rahmenbedingungen (Lang / Mc Dannell 1996), was an dieser Stelle nicht weiter detailliert werden kann.

Im Zuge der Wiederentdeckung der antiken griechischen Denker in der Renaissance brachten die mystisch ausge­richteten Natur­philosophen dieser Zeit neue Synthesen paganer und christlicher Konzepte in den philo­sophisch-theolo­gischen Diskurs zur Bedeutung des Todes ein (vgl. Hügli 1972: 18). Anschlüsse an heraklitische Vorstel­lungen vom Kreis­lauf und fließenden Übergängen des Absterbens und Neu-Lebens verbanden sie mit Vorstel­lungen vom Tod als Wieder­vereinigung mit Gott, und zwar in Übertragung auf den natürlichen Tod, so dass dieser für sie einen »Übergang in eine höhere Seinsweise« (ebd.) bedeutete.

Eine Neuinter­pretation von Leben und Tod, die eine Kombination aus christlicher Lehre und natur­wissen­schaftlich fundierter Logik darstellt, findet sich in der frühen Auf­klärung bei Leibniz (1646-1716) im Zusammen­hang mit seiner Monadenlehre (Leibniz 1885: 607ff.). Leibniz' Modell unter­scheidet sich vom verbreiteten Leib-Seele-Dualismus dadurch, dass es von grundsätzlich beseelter Materie und unterschied­lichen Graden an Bewusstsein ausgeht. Sind sie nicht allein mit Perzeption, sondern mit Apperzeption ausgestattet, betrachtet Leibniz diese geschaffenen Seelen(teilchen) als unsterblich. Kurz gefasst heißt Geburt bei ihm ein Anwachsen durch Konfiguration von Monaden­teilchen zu einem Individuum, während der Tod für ein Schwinden und Zerfallen des Körpers steht, nicht aber für die Vernichtung von Seelen (ebd.: 543). Hügli (1972: 11f.) fasst diese Gedankenfigur des Todes als quantitative Veränderung, als letzten Typus objektivierender Todes­deutungen auf. Da für Leibniz Seelen, die einmal zu einem Subjekt verbunden und gestaltet waren, sich nach dem Tod desselben doch wieder in anderer Weise neu zusammen­finden können, spricht er von einer Metamorphose der Seelen, statt von einer Metempsychose (Leibniz 1885: 601, 619).

Das Leibniz'sche Post­mortalitäts­modell markiert mit seinen ratio­nalistischen Anteilen von seiner sozialen Funktion her eine Betonung der Eigen­verantwort­lichkeit des Menschen. Gott hat die beste aller möglichen Welten geschaffen und greift selbst nicht mehr in das Geschehen ein (vgl. Schepers 2014: 18ff.). Was auf die Art der Seelen­metamorphose nach dem Tod des Menschen nun aber Einwirken könnte, bleibt letztlich unklar. Unter Weg­lassung der christlich motivierten Aspekte gelangt man von Leibniz zu einer Todes­deutung als Zerfall und Vernichtung, wie sie einer materia­listisch-atheistischen Sicht entsprechen könnte (vgl. Wohlrab-Sahr et al. 2005: 161f.). Auffällig ist aber, dass auch heute in Kontexten fortgeschrittener Säkularisierung Todesdeutungen empirisch festzustellen sind,[6] die – bei aller Betonung natur­wissenschaft­licher Zusammen­hänge – doch wieder dem Modell der Seelen­monaden erstaunlich nahe­kommen und sich dabei auch von einer Vorstel­lung des Todes als Wieder­geburt abgrenzen:

»Ansonsten glaub’ ich auch, alles is’ wissen­schaftlich erklär­bar und genauso seh’ ich das auch mit dieser Sterbe­sache, die Moleküle zerfallen mit Sicherheit, und das, was man vielleicht als Seele bezeichnen kann, sich, sich bewusst sein, und das is’ das, was ich als Kind schon dachte, dass ich irgendwann, wer anders ich bin, also ich glaube nich’ direkt an die Wieder­geburt, aber ich glaube schon daran, dass es ’n Kreis­lauf gibt.« (Wohlrab-Sahr et al. 2005: 169)

Tatsächlich ist in der Geistes­geschichte nach Leibniz dessen Konzept aufge­nommen und das Potenzial der Metamorphose sinnhaft weiter­gedacht worden. In Die Erziehung des Menschen­geschlechts knüpft Lessing (1729-1781) hieran an und entwickelt das Konzept – hypothetisch – in Richtung eines Wieder­geburts­modells weiter. Sein diskurs­geschichtlich folgen­reicher Ansatz (vgl. Zander 1999: 343ff.) dazu, weshalb der Mensch durch eine erneute Geburt denn nicht die Chance zu einer moralischen Weiter­entwicklung erhalten sollte, hatte klar pädagogische Implikationen und bedeutete eine Historisierung der Post­mortalitäts­vorstellungen, wie sie überhaupt im Verbund mit einer Immanenti­sierung in vielen Konzepten seit der Aufklärung erfolgte. Im Zusammen­hang mit der Kritik der Gottes­beweise wurde nun auch die Lehre von der Unsterb­lichkeit (besonders bei Hume und Kant) stärker hinter­fragt (vgl. Ahn 1999: 27f.). Damit setzte eine Tendenz ein, Unsterb­lichkeit nicht mehr auf eine individuelle, von einem sterb­lichen Körper zu unter­scheidende Seele zu beziehen, sondern auf ein die Welt durch­waltendes geistiges Prinzip, auf dem die menschliche Vernunft beruht. Speziell bei den Philosophen des Deutschen Idealismus kam es zu Synthesen, welche zudem Leben und Tod als eine Einheit deuteten. »Sie sehen in ihm [dem Tod], sehr verkürzend gesprochen, den Übergang von einer begrenzten, partikularen Gestalt zu der umfas­senden Daseins­form und damit die Versöhnung des in die Endlichkeit entäußerten Absoluten mit sich selbst.« (Hügli 1972: 18) Weder bei Fichte, Schelling, noch bei Hegel kann daher von einem Weiter­leben nach dem Tod als konstanter Fortsetzung des Lebens­laufes gesprochen werden. Das Sterben wird als notwendig gedacht für eine Befreiung und Erhebung zu einer wesenhaften, höheren Existenz.

Dass es sich bei den Post­mortalitäts­diskursen im 17. bis 19. Jahrhundert um ein reines Ober­schichten­phänomen handelte, wird in der religions­wissenschaftlichen Forschung zwar betont (vgl. Ahn 1999: 28), eine gewisse Korrespondenz mit der zeitge­nössischen Weiterent­wicklung der Friedhofs­kultur ist allerdings nicht auszuschließen (vgl. Mickan 2015b: 85ff.). Auch Reinkarnations­diskurse (vgl. Ahn 1999: 27ff.) fanden bis zu ihrem starken Gewinn an Popularität im 20. Jahrhundert aus­schließlich in der (intellektuellen) Oberschicht statt. Mit wenigen Ausnahmen (etwa Schopenhauer, vgl. Zander 1999: 440ff.) waren Bezüge auf Pythagoras bzw. die Pythagoräer, aber gerade aufgrund ihrer ethischen Implikationen besonders auch auf Platons Lehre grundlegend für diese Gedanken­modelle. Im theo­logischen Diskurs des 19. Jahrhunderts erfährt Wieder­geburt eine Umdeutung als eine Art Bekehrung oder Umkehr. Bedeutende Impulse in dieser Richtung stammen von dem Religions­philosophen und Theologen Søren Kierkegaard (1813-1855). Der Tod wird so zu einem Moment des Lebens, aber zunächst noch nicht der biologische Tod, wie später, in den frühen 1910er Jahren, bei Simmel (2001) oder 1927 bei Heidegger (1967), sondern eher ein Tod, wie ihn der neutesta­mentliche Paulus (z.B. 2 Kor 5,17; Röm 6,1-11) als ein Mit-Sterben mit Christus durch die Taufe einschließlich ethischer Konse­quenzen beschreibt. Mit Jesus Christus als unbedingtem Vorbild sieht Kierkegaard den Menschen gefordert, sich zu sich selbst zu verhalten und so ein Selbst zu werden, was gleichzeitig mit dem Werden der nur als eigene existenten Geschichte verbunden ist (vgl. Patios 2014, 51ff.). Die paradoxe Synthese aus Endlichkeit und Unendlich­keit, Zeitlich­keit und Ewigkeit, Notwendig­keit und Freiheit ist für ihn im Glauben möglich und befreit von der Verzweiflung als einer Krankheit zum Tode (Kierkegaard 1995). Simmels »Lehre vom Tod als das jedem Einzelnen inne­wohnende apriorische und form­gebende Moment« (Hügli 1972: 25) eröffnet dann tatsächlich gewisser­maßen eine neue, moderne Etappe der Todes­deutungen. Leben und Tod sind in diesem Modell notwendiger­weise oder, wie sich auch sagen ließe, um des Lebens willen zu trennen. Die Konturen eines individuellen Lebens nehmen nur in Verbindung mit einem individuellen Tod Gestalt an. Thorsten Benkels Feststellung (2016a: 8) gut einhundert Jahre später: »Wenn die Gesellschaft sich ändert, ändert sich das Ende des Lebens mit«, kann als direkte Fortsetzung dieses Gedankens gesehen werden.

Todesbilder der Gegenwart – Konstruktionen des Weiterlebens

Im Zuge der spät­modernen religions­kulturellen Plurali­sierung werden heute nicht allein Fragmente alter Mythen und Riten in freier Form umgestaltet oder auch gänzlich neue Mythen und Riten erfunden (Karolewski et al. 2012). Relevant ist ferner die diversi­fizierte Medien­landschaft, die denjenigen, die auf der Suche nach Antworten auf Fragen zum Tod sind, vielfältige Quellen bieten und als Impulsgeber für die Konstruktion von Post­mortalitäts­konzepten dienen können, typischer­weise auch in synkretistischer Weise (vgl. Ahn et al. 2011; Ahn 2011; Rakow 2011; Hörlesberger 2013). Die Auseinander­setzung mit Post­mortalitäts­konzepten ist von einer Makro­ebene der Religions­systeme auf die Mikroebene des Privat­bereichs gewandert (vgl. Ahn 2001: 32). Typisch spätmodere Heraus­forderungen zur Existenz­bastelei im Leben setzen sich damit gewisser­maßen für die eigene antizipierte oder für verstorbene Bezugs­personen entworfene nachtodliche Identität fort (Meitzler 2016). Neben Narrationen aus der Film- und Computer­spielwelt liefert auch ein florierender Markt alternativer, nicht selten von asiatischen Traditionen entlehnter Meditations- und Gesundheits­angebote Bausteine oder fertige Konstrukte zur Deutung von Leben und Tod.

Hervor­zuheben ist darüber hinaus der seit den 1970er Jahren einfluss­reiche Diskurs um die Beweiskraft von Nahtod­erlebnissen (vgl. Schäfer 2016: 19ff.; Knoblauch 2002). Dieser Diskurs steht zwischen einer natur­wissenschaft­lich basierten medizinischen Sicht, die Trans­zendenz­vorstel­lungen überwiegend im Rahmen psycho­logischer Konzepte deutet, und einem durch die Para­psycho­logie markierten anderen Pol. Als gesell­schaftlicher Konsens scheint daneben eine biologische Deutung von Leben und Tod als unhinter­gehbares Kriterium festzustehen (siehe z.B. Birnbacher 2017; Feldmann 2010: 47), welches aber den freien Anschluss von Konstruktionen des Weiter­lebens nicht unmöglich macht. Im Einzelfall kann hierdurch auch ein Konflikt­potential freige­setzt werden, dann etwa, wenn psychische Erlebnisse, Wahr­nehmungen im Trauer­prozess nicht mit diesen Grund­annahmen in Einklang zu bringen sind und es scheint, als würde (in irrationaler Weise) eine Grenze zwischen Diesseits und Jenseits durchlässig. So konstatiert Gernot Meier (2017) von der Fachstelle für Welt­anschauungs­fragen der Landeskirche Baden einen in den letzten fünf Jahren deutlich gestiegenen Beratungs­bedarf bei Fragen der ›Begegnung‹ mit Verstorbenen. Sicher ist Klaus Feldmann (2010: 50f.) Recht zu geben, dass strenge rituelle Regelungen das Möglichkeits­potential einer Trauer­bewältigung eingrenzen. Wenn allerdings gar keine kulturellen Modelle mehr trag­fähig sind, wird die Todes­deutung im Anschluss an persönliche Erfahrungen nicht selten zu einem Fall für psycho­logische Beratungen – und die Trauer­bewältigung rückt damit leicht in den Bereich von Erkrankungen.

Fragen nach dem Sinn des Lebens und vielleicht auch nach dem Sinn, wenn nicht des Todes, so doch der Endlichkeit gehören zu den Vorstel­lungen von einer wie auch immer gearteten Weiter­existenz nach dem (biologischen) Tod dazu. Eine stärkere Auseinander­setzung hierzu im gesellschaftlichen Diskurs wäre wünschens­wert. Denn wenn auch das Paradies in zeitgenössischen Deutungen als nichts anderes als eine Fortsetzung des irdischen Lebens erscheint (vgl. 't Hart 2000; Ahn 1999: 34f.), so stellt auch dieses Konzept doch wieder eine Lösung nur für diejenigen dar, deren Leben im Allgemeinen nichts zu wünschen übriglässt.

Antje Martina Mickan

 

Literaturverzeichnis

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Mickan, Antje (2015b): »… wenn ich irgendwo so ʼn Steinchen da hätte mit Namen«. Bestattungswünsche älterer Menschen. Eine praktisch-theologische Untersuchung zu Altern, Sepulkralkultur und Seelsorge, Berlin.

Mickan, Antje (2019): Konstruktionen des Weiterlebens. Postmortalitätskonzepte in Vergangenheit und Gegenwart, in: Benkel Thorsten / Meitzler, Matthias (Hg.): Zwischen Leben und Tod. Sozialwissenschaftliche Grenzgänge, Wiesbaden [entspricht dem hier veröffentlichten Text].

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Rentsch, Thomas (2016): Endlichkeit und Lebenssinn, in: Bihrer, Andreas/Franke-Schwenk, Anja/Stein, Tine (Hg.): Endlichkeit. Zur Vergänglichkeit und Begrenztheit von Mensch, Natur und Gesellschaft, Bielefeld, S. 35-51.

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Online-Quellen

www.germanische-glaubens-gemeinschaft.de. Stand: 28.03. 2018.

 

 


[1] Dabei weisen die von Hügli gebildeten Kategorien einen Abstraktionsgerad auf, der weitgehende Unabhängigkeit von kulturell geprägten Begriffen schafft und so für eine vergleichende Darstellung besonders geeignet ist. Zur Notwendigkeit dieses Anspruches innerhalb der vergleichenden Religionswissenschaft vgl. z.B. Ahn et al. (2011: 21).

[2] Als ein Beispiel sei hier auf die Germanische Glaubens-Gemeinschaft (germanische-glaubens-gemeinschaft.de) hingewiesen.

[3] Vgl. Gen 3,19; Ps 103,14; 104,29; Hi 10,9; 34, 14f.; Koh 3,19-21.

[4] Der im Hintergrund stehende Mythos erzählt davon, dass der Wesenskern des Menschen von göttlicher Abkunft sei und wegen einer Verfehlung mit dem Einschluss in einen Leib bestraft wurde, aus dem allein der Tod desselben befreien könne (vgl. Hügli 1972: 9; Zander 1999: 69f.).

[5] Zur aktuellen philosophischen Auseinandersetzung mit der Spannung zwischen eingetretenem Tod und der Vorstellung einer zeitlich davon getrennten Auferstehung vgl. Birnbacher (2017: 105ff.), der in seiner Argumentation von biologischen Prämissen ausgeht. – Aus der Fülle theologischer Literatur zum hier nicht angemessen darstellbaren Thema einer christlichen Sicht auf Tod und Auferstehung seien exemplarisch Gräb-Schmidt (2012) und Jüngel (1971) genannt.

[6] Im Rahmen des 2003 gestarteten Leipziger DFG-Projekts Generationenwandel als religiöser und weltanschaulicher Wandel: Das Beispiel Ostdeutschlands wurden Familieninterviews geführt und ausgewertet (Wohlrab-Sahr et al. 2005), aus denen auch die oben folgende Sequenz stammt, in der sich eine Angehörige der jüngeren Generation äußert (ebd.: 168ff.).

 

Oktoberthema 2020:

Es kann so angenehm sein, durch Hygiene­konzepte gleich­zeitig vor Krank­heits­erregern und mitmensch­licher Nähe geschützt zu werden. Das geht mir durch den Kopf, während ich beim Ernte­dank­gottes­dienst zum „Agapemahl“ gemütlich in meiner Kirchen­bank sitzen­bleiben und eine von diesen Früh­stücks­tüten aus Butter­brot­papier auspacken kann. Die Tüte durfte ich mir im Kirchen­foyer von einem darge­botenen Tablett selbst aussuchen, nachdem ich mich mit meinen Personal­angaben als Teilnehmerin der Veran­staltung quasi ‚einge­schrieben‘ hatte. – Das muss sein, sehe ich ein. Dafür bekomme ich jetzt ja auch was. – An jedem Beutelchen war akkurat ein Papier­streifen mit Schrift­zug in verschie­denen Farben befestigt. Mich hatte die blaue Schrift an der meinen am meisten ange­sprochen. Und als neu­gieriger Mensch hatte ich dann natürlich schon längst, bevor die Tüten offiziell ange­sprochen wurden, einmal hinein­gelunzt: ein Brot­stückchen und zwei dunkel­rote Wein­trauben! Das war verheißungs­voll, denn man würde die Gemeinde wohl kaum auf­fordern, dass wir uns mit diesen Tüten in den Altar­raum stellen und unter Einhaltung von Abstands­regeln dort das Mahl feiern. Ich würde gar nicht so genau hin­sehen müssen, wie wenige Menschen sich heute hier versam­melt hatten, wie staubig die Erntekrone, die da von der Decke baumelte, wirklich war, und ob die ange­häuften Erntegaben sich vielleicht doch als Attrappen heraus­stellen könnten. Der feuchte Hände­druck im Kreis zu Sendung und Segen war ja sowieso tabu und auch die Frage nach „Oblate-Tunken oder Aus-dem-Kelch-Schlürfen?“ konnte sich nicht stellen, nicht nur wegen Corona, sondern wegen des Weins in Trauben­form zum – wie ich bald auf dem Ablauf­zettel entdeckte – „Agapemahl“, was doch bedeutet, dass wir Brot und Wein untereinander weiterreichen. Es hätte also höchstens zum Tüten­tausch kommen können, aber selbst das erschien mir immer noch als ein bedenklicher Kontakt. Und überhaupt, was für eine Ernte gab es in einem Jahr wie diesem auch schon zu feiern? Okay, die Felder sahen in den letzten beiden Sommern deutlich schlimmer aus, aber ich arbeite ja auch nicht in der Landwirtschaft.

Jetzt sind also die Tüten dran. Ich entdecke, dass der blauge­druckte Spruch daran aus dem Psalm 104 stammt, den wir zuvor schon gemeinsam gebetet hatten. Vers 24: „Wie zahl­reich sind doch deine Werke HERR, alle hast du mit Weis­heit ausge­führt, die Erde ist erfüllt von dem, was du geschaf­fen hast.“ Hm, ja. So ganz überz­eugt bin ich in diesem Jahr einfach nicht. Außer­dem weckt dieses ständige maskuline "HERR", das mich an diesem Tag nicht zum ersten Mal trifft, meinen femi­nistischen Wider­stand. Ein wenig Ausgleich würde ich mir wünschen, das geht doch heute nicht so schwer. Dann die Überraschung des Tages beim Biss in das Agapebrot. Das war der Geschmack vom Sauerteigbrot des stadtweit besten Bäckers, der auch in der Nachbarschaft der Kirche eine Filiale hat. Und dazu schmeckte es heute am Sonntag direkt nach dem „Tag der deutschen Einheit“ so frisch, als wäre es wirklich am Morgen erst gebacken worden. Das nehme ich persön­lich und lasse er mir auf der Zunge zergehen. Mein Lieb­lings­brot. Kein großer Bissen und doch absolut groß genug. Groß und bitter sind dann zwar die Kerne in den zwei Wein­trauben, aber egal. Ich freue mich und kann nicht anders. Ein Tütchen mit­mensch­liche Liebe, ganz für mich. Und ohne Stehkreis mit Benimm­regeln, ein bisschen heimlich. Ich fühle mich an das Erleben eines Abend­mahls auf der Bühne, gespielt von Jugendlichen erinnert. Es handelte sich um eine Aufführung des Passionsmusicals „Es ist vollbracht“ von Thomas Riegler. Auch damals saß ich im Publikum auf einer Kirchen­bank, auch heute waren mit dem Jugend­kirchen­team, das den Ernte­dank­gottes­dienst gestal­tete und das Brot gewählt hatte, junge Menschen die Agierenden, die das traditi­onelle Thema umsetzten, aber doch so ein wenig anders, auf ihre Art, die mich zum Staunen brachte.  Das Musical von Riegler orientiert sich nahe an der Passions­erzählung des Matthäus­evange­liums, wie sehr habe ich bei der an­schließen­den Lektüre des zuvor als vertraut einge­schätzten Textes über­rascht festge­stellt. Die erste Leit­szene, die dann bedeutsam über dem Rest der Insze­nierung schwebt, ist – im Anschluss an die Räumung des Tempels von den Händ­lerinnen und Händlern – das Lied von der Liebe als höchstem Gebot. Wenn Jugend­liche von der Liebe singen, schaffen sie es wirklich alle Facetten dieses Phänomens zum Schillern zu bringen. Das ist spannend und geht zu Herzen. Die Figur des Jesus ist mit der Liebe nun eindeutig verbunden. Und wenn sie dann das Brot austeilt, mit den Worten „Nehmet hin und esst, dieses ist mein Leib. Haltet daran fest, dass ich in euch bleib“, dann geht es hier so offen­sicht­lich um die persön­liche Einver­leibung der Liebe schlecht­hin, die den Menschen erfüllt und einhüllt, auch wenn kein greif­bares Heil mehr in Person vor Augen ist, dass jeder früher mal erfahrene Erläuterungs­versuch des pauli­nischen „In-Christus“ im theolo­gischen Seminar blass erscheint.

Statt eine Predigt zu verfassen hatte das Gottesdienstteam für den 04.Oktober 2020 einen Text zum Thema „Danken“ ausgesucht. Da hieß es beispiels­weise unge­fähr: „Ich bin denkbar für den weiten Weg zum Park­platz, weil das bedeutet, dass ich ein Auto habe“ oder „ich bin dankbar abends müde ins Bett zu fallen, weil das bedeutet, dass ich ein Bett zum Aus­ruhen habe“. Nun also „Agapemahl“, „Liebes­mahl“, mit Sauer­teig­brot, denn bei uns gibt es Sauerteig zum Backen und wir sind nicht auf der Flucht, mit Jugend­lichen, die für uns Gitarre spielen und – natürlich auf Abstand – singen, mit meiner sozialen Bequem­lichkeit, die sich auch mal freut, einfach sitzen bleiben zu dürfen, an die ich mich aber doch wirklich nicht gewöhnen will und ein bisschen viel mit HERR, HERR, Vater und das doch von einem aus­schließ­lich weiblichen Team darge­boten. Vielleicht sind die alle schon ein Stück weiter beim Sprach­gebrauch als ich und haben die Genderei nicht mehr nötig.

Beim Kirchen­café sind es dann die Jugend­lichen, die beschäftigt durch den Saal rauschen, statt sich in ein Gespräch verwickeln zu lassen. Aber ich weiß nun, dass wir den gleichen Brot­geschmack teilen und es ist mir sogar gelungen, bei der Begegnung am Türrahmen ein „Danke, das war schön“ loszu­werden. Obendrein wird hier beim Kirchcafé nun doch meine auf Ausgleich drängende Frauen­seite getröstet. Denn in der Gemeinde hat sich ein Frauen­team zusammen­gefunden, das sich fragte, welche Frauen an der Seite derjen­igen Männer standen, die im Altarraum der Kirche als glitzernde Steinmosaike von elf bedeu­tenden Persön­lich­keiten der Reformation zu sehen sind. Es ist über diese Refor­mations­frauen ein schönes kleines Buch mit dem Titel „Lasst euer Licht leuchten“ entstanden, das mich an diesem Tag erneut sehr freut. Danke.

Antje Martina Mickan

Septemberthema 2020:

Generationenbeziehungen jenseits der Familien ­­und ein Friedensprélude

Welche Impulse kann Praktische Theologie für die Gestal­tung von Genera­tionen­beziehungen außerhalb der Familie geben? Diese Frage­stellung bezieht sich auf einen ebenso aktuel­len wie viru­lenten gesell­schaft­lichen Diskurs­zusammen­hang. Man denke nur an die „Fridays for Futur-Demonstra­tionen“, die seit Ende 2018 weltweit eine große Zahl – nicht nur von Schü­lerinnen und Schülern – zum konse­quent ökologischen Umdenken und Handeln mobili­sierten, an die Debatte um die Aner­kennung von Pflege­fach­kräften im Zusammen­hang mit der Covid-19-Pandemie, an bleibende Fragen der Renten­sicherheit, aber auch an Kirchen­aus­tritts­zahlen und die kon­fessions­über­greifend drängen­den Fragen, wie es mit der christ­lichen Religion in Zukunft weiter gehen kann. Die Bewäl­tigung all dieser Heraus­forde­rungen wird ohne ein soli­darisches Zusammen­wirken unter­schied­licher Genera­tionen kaum gelingen.

Angesicht dieser umfassenden Themenweite legt sich hier die Konzentration auf Exemplarisches nahe, um zu einem Ergebnis zu kommen. Ein praktisches Beispiel finden wir in Anknüpfung an das deutschland­weite Motto des 1. Septembers als Antikriegstag für dieses Mal auf dem Terrain der Erinnerungs­kultur und Friedens­arbeit. Also machen wir uns dahin auf den Weg.

Allerding gilt es zum Einstieg ins Vorhaben noch einem Zweifel zu begegnen: Warum sollte ausge­rechnet die Praktische Theologie zu Genera­tionen­bezie­hungen und ihrer Gestal­tung etwas beizu­tragen haben? Ist das nicht eher ein Thema für die Sozialethik? Wenn es darum geht, konkrete Verhalten­sweisen aufz­udecken, zu hinter­fragen, ihnen eine bestimmte Qualität zuzu­sprechen, sie zu bewerten, trifft das sicher zu. So sind sozial­ethische Perspek­tiven und Stellung­nahmen entschei­dende Grundlagen, mit denen weiter­gearbeitet werden kann. Ent­sprechend setzten wir hier die Leit­ideen von Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung als trag­fähige Ziele voraus und gehen insbe­sondere von dem norma­tiven Grund­satz aus, dass es anzu­streben ist, Genera­tionen­bezie­hungen solida­risch, partizi­pativ und gemein­schafts­fördernd zu gestalten, wie dies unter anderem Helmut Kaiser in seiner über­zeugenden sozial­ethischen Analyse und Darstellung vertritt. (vgl. Kaiser 2010).

Generativität als Aufgabe

Ich wage aber die Behauptung, dass – über die akute Thematik hinaus – das, was Praktische Theologie grund­sätzlich leistet, als Arbeit an Genera­tionen­bezie­hungen zu verstehen ist. Sollte dies zutreffen, muss also noch etwas Anderes als ethisch-moralische Fragen in den Blick kommen: Unser Gegenstand in diesem Fach ist zeit­genössische christ­liche Religionspraxis, die wir mit aktuellen sozial- und geistes­wissen­schaft­lichen Methoden erfassen, erforschen und reflektieren. Dies jedoch stets auch in Ausein­ander­setzung mit der biblischen Tradition und mit einer aus dem christlichen Glauben begrün­deten Motivation. So gilt es Möglich­keiten einer gelingenden Beziehung des alten Evangeliums zum Leben der jeweils aktualen Mensch­heits­genera­tion im Hier und Heute zu reflek­tieren, zu beschrei­ben und zu vermit­teln. Das kann nur geschehen, indem auch die religions­kulturellen Traditionen immer wieder neu in gegen­wärtige Lebens­wirk­lichkeit hinein übersetzt werden. Denn damit erfahr­bar ist, was trag­fähige Wissens­bestände und Werte sein mögen, auf die weder eine Gesellschaft noch eine Religions­gemein­schaft in Zukunft gut verzichten kann, braucht es frei­lich eine Begegnung mit diesem Gut vergangener Generationen, es braucht die Aufführung und Neu-Erzählung, um sich dafür oder dagegen entscheiden zu können. Außerdem ist die evange­lisch-christ­liche Erinnerungs­religion unbedingt pro­gressiv ausge­richtet. Das heißt auch: Es soll und kann nicht alles bleiben, wie es war. Wir glauben an einen Schöpfer­gott, der mit lernenden Menschen durch die Zeit geht und in dem doch alle Zeiten wie die Mensch­heit insgesamt verbunden sind. Was im mehr­sprachigen Kompen­dium zu Genera­tionen, Genera­tionen­beziehungen und Genera­tionen­politik von Kurt Lüscher und anderen als Generativität verstan­den wird , nämlich: „die menschliche Fähig­keit, indivi­duell und kollek­tiv um das gegen­seitige Angewiesen­sein der Genera­tionen zu wissen, dies im eigenen Handeln bedenken zu können und zu sollen“ (Lüscher u.a. 2017, S.14), ist als ein Grund­prinzip in der biblischen Tradition zu finden. Ich will dies nur kurz mit der Nennung einiger Beispiele unter­streichen: Denken Sie an das Bild der älteren Noomi, die das Kind von Ruth und Boas auf dem Schoß hält und pflegt (Rut 4,16), denken Sie an den alten Isaak, der seinen Segen vor seinem Tod noch weiter­geben will (Gen 27), an das Gebot, die Eltern zu ehren, das heißt, auch im Alter zu ver­sorgen (Ex 20,20), an die Übergabe des Propheten­amtes von Elia auf Elischa (2. Kön 2,2), an das Bild vom heils­zeitlichen Genera­tionen­frieden, wenn alte Männer und Frauen auf den Plätzen Jerusalems sitzen und daneben Mädchen und Jungen spielen (Sach 8,4f.), an Simeon mit dem Jesus­kind auf dem Arm (Lk 2,28) und nicht zuletzt auch an das Neu­werden selbst im Alter durch die Taufe (2 Kor 5,17; Röm 6,6; Joh 3,4f.). So gesehen kann das Taufsakrament auch als ein Ritus der Ein­übung von Genera­tivität ver­standen werden. (Vgl. Mickan 2015 sowie zu Genera­tionen­fragen aus theolo­gischer Sicht: Burbach / Heckmann 2007.)

Ein kontinuier­liches Neu-Werden in religions­kultureller Hinsicht mit Relevanz für eine sozial­politische Dimension ist in Kirche und Gesellschaft allerdings eine Aufgabe, die auf ein größeres Engagement und kritische Reflex­ionen ange­wiesen ist. Wenn – wie mir die Braun­schweiger Dom­predigerin Cornelia Götz im Interview berichtete – der Fernseh­journalist Arnd Henze auf der City­kirchen­konferenz in Hamburg des letzten Jahres (2019)  warnte, dass die Kirchen mit ihrer Erinnerungs­kultur auch restau­rative Tendenzen stärken mögen, die weit rechts ausge­richteten politischen Grup­pierungen in die Hände spielen können, sind solche Warnungen ernst zu nehmen. Entschei­dend sind das Ziel des Erinnerns und das Wie des Erinnerns an christ­liche Traditionen, an das Evange­lium sowie die mit dieser Erinnerungs­praktik verbundene Aus­einander­setzung mit Fragen unserer Zeit, der jüngeren Vergangen­heit oder Zukunft. Was aus sozial­politischer wie aus praktisch-theolo­gischer Sicht möglichst nicht geschehen sollte, weder beim Erinnern im Rahmen eines Dialogs der Genera­tionen im Stadt­teil­zentrum, beim Erzähl­café in der Kirchen­gemeinde, noch beim Museums­besuch, sind antago­nistische Praktiken, bei denen klare Trennungen in Gut − auf Seiten der eigenen Wir-Identität − und Böse − auf Seiten der Anderen − leitend sind. Solche antago­nistische Erinnerungs­praktik istwie die Leiter des EU- Projektes UNREST zu Erinnerungs­kultur, Stefan Berger und Wulf Kansteiner,betonten – „nicht reflexiv, sondern extrem mono­logisch und basiert auf der Mobili­sierung von emotionalen Zuge­hörig­keiten zu angeblich ex­klusiven natio­nalen Erinnerungs­gemein­schaften“ (Berger / Kansteiner 2019, S. 20). Wobei anzu­merken ist, dass Grenzen von Erinnerungs­gemeinschaften oft auch in kleineren Rahmen als der Nation gesetzt werden.

Ein Fallbeispiel

Fragen der Generationen­beziehungen spielten bei einer Veranstal­tung aus meinem aktuellen Forschungsfeld eine besondere Rolle, so dass ich sie hier als Auf­hänger für die Heraus­arbeitung konkreter praktisch-theologischer Impulse für die Gestal­tung von Genera­tionen­bezie­hungen nutzen will. Es handelt sich um ein öffent­liches Setting, in dem sozio­kulturelle Prozesse und Strukturen verdichtet repräsen­tiert werden, womit zwar keine 1:1 Über­tragung, aber konstruk­tive Anschlüsse an andere Settings sozialer und diakonischer Arbeit mit unterschied­lichen Generationen möglich sind. Es geht um die Konkreti­sierung von Genera­tionen­bezie­hungen als Friedens­arbeit.

Bei diesem Feld­forschungs­beispiel handelt es sich um eine Gedenk­veranstal­tung im Braunschweiger Dom anlässlich des 75. Jahres­tages einer Bomben­nacht mit an­schließen­dem soge­nannten „Feuersturm“, als 90% der Braunschweiger Innen­stadt­gebäude zerstört wurden. − Es gilt als ge­sichert, dass der Angriff der Britischen Royal Air Force in der Nacht zum 15. Oktober 1944 auf Braunschweig unter anderem die Funktion eines Tests für eine spätere Bombar­dierung Dresdens hatte, die dann am 13. Februar 1945 mit erschüt­terndem Resultat erfolgte. Während die ökume­nische und interna­tional vernetzte Friedens­arbeit in Dresen mit heute inzwischen fünf Nagel­kreuz­zentren ein wirksames Profil erlangt hat, steht eine solche ökume­nische Initi­ative in Braun­schweig noch am Anfang. − Das Memorial im Dom trug den Titel „Prélude for Peace“ und wurde in gemein­samer Verant­wortung der Domkirche und des Staats­theaters Braunschweig ausgerichtet. Es handelt sich um ein Beispiel, bei dem inter­genera­tionelle Erinnerungs­arbeit erst an einer Schwelle, an der die Zahl der lebenden Zeit­zeuginnen und Zeit­zeugen sehr klein geworden ist, neue, konstruk­tive und auf Zukunft angelegte Formen annimmt.


Zwischenschritt: Ein Generationenkonzept

Um Schwellen zwischen Genera­tionen benennen zu können, fehlt an dieser Stelle der Betrach­tung noch eine Klärung dessen, was unter „Generation“ in einem außer­familialen Kontext verstanden werden kann? Diese sei daher jetzt zwischen­­geschoben:

Ein Generationen­konzept, das mehr oder weniger trans­formiert besonders in sozio­logischer und kultur­wissen­schaft­licher Perspek­tive auch heute noch häufig heran­gezogen wird, entwickelte Karl Mannheim in den 1920er Jahren (vgl. Mannheim 1928/29). Es zeichnet sich im Wesent­lichen durch drei aufein­ander aufbau­ende Referenz­punkte aus. Da ist zum Ersten die Generationenlage, mit der eine für sich abge­grenzte Folge von Geburts­jahr­gängen gemeint ist, was dem üblichen sozial­wissen­schaft­lichen Verständ­nis von Alters­kohorten entspricht. Zum Zweiten beschreibt Mannheim den Generationenzusammenhang. Dieser ergibt sich durch gemein­same Teil­habe an einem als schicksal­haft erfahrenen Ereig­nis. Hieran schließt sich das Element der Generationeneinheit. Es steht für die An­nahme, dass aus dem gemein­samen Erleben eine spezielle Verbunden­heit der Generationen­mitg­lieder resul­tiert, die einer­seits einem sub­jektiven Empfinden ent­spricht, anderer­seits durch gleich­gerichtete Verhaltens­weisen sozial in Erscheinung tritt. Innerhalb der Soziologie gilt die nach Mannheims Konzept umrissene Generation als Trägergruppe des sozialen Wandels.


Das Erinnern der Kriegskinder

Zurück zum meinem Fall bzw. zu dessen Vor­geschichte und der An­wendung von Mannheims Konzept hierauf: Regel­mäßige Gedenk­tage im Braun­schweiger Dom zu dieser Bomben­nacht gab es seit circa 20 Jahren. In ihrem Mittel­punkt stand zuletzt die Genera­tion der­jenigen, die das Ende des Zweiten Welt­krieges als Kinder miter­lebt hatten, also die Generationenlage der etwa zwischen 1930 und 1940 Geborenen. Das schicksal­hafte Ereignis, das den Generationen­zusammenhang begründet, ist die Erfahrung von der jähen Zer­störung der bekannten Lebens­umwelt durch Bomben und Feuer­sturm, begleitet von Ein­drücken fliehender, auch sterben­der Menschen und dem Handeln der Eltern. Als Generationen­einheit sozial auf­fällig wurden diese Kriegs­kinder lange nicht. Sie schwiegen im Privaten großen­teils und die Geschichts­schrei­bung hatte sie lange nicht im Blick. Der 1938 geborene ehemalige Redakteur Eckhard Schimpf hat in Braun­schweig in den letzten zwei Jahr­zehnten wesent­lich zu einem Brechen des Schweigens beige­tragen und quasi stellver­tretend für die Kriegs­kinder seiner Stadt wieder­holt öffent­lich – auch im Dom – von den als traumatisch erfahrenen Ereignissen berichtet. Als Ursache dafür, dass er selbst erst mit über 50 Jahren begann, sich nach seinen Erinnerungen an diese Zeit zu fragen, nennt er zum einen die erfah­rene Erzie­hung mit Sprüchen für die deutschen Jungen – die auf keinen Fall Memmen sein sollten − der Art: „Zäh wie Leder, hart wie Krupp­stahl, schnell wie Windhunde“. Zum anderen reflektiert er in diesem Zusammenhang aber auch das Wissen um die Schuld auf Seiten der Seinigen und dass eine Thematisierung der selbst verschuldeten schmerz­vollen Folgen des Krieges auf deutscher Seite lange als Tabu galt (vgl. Schimpf 2010).

Die Dom­nächte, die sich an diesem wieder­kehrenden Erinnerungs­tag Anfang der 2000er Jahre in Braun­schweig zu einem Format ent­wickelten, hatten zum einen eine mahnende Funktion für die Stadt­gesellschaft, aber ganz wesent­lich auch eine seel­sorg­liche Funktion für die­jenigen, welche den Angriff in jungen Jahren mit­erlebt hatten und an diesem Datum regel­mäßig nicht wussten, wohin mit sich und ihrer erneut aufkom­menden Angst. So wurde bei den Dom­nächten vor allem viel erzählt: immer wieder die Geschichte vom Schrecken des Feuer­sturms. Der kirchliche Ort gab Trost und dieses nicht zuletzt, da eben der Braun­schweiger Dom in den Bomben­nächten des Zweiten Welt­krieges nur unwesent­lich beschädigt worden war. So konnten sich die Berichte vom Über­leben der Nacht, mit dem Bild der intakten Erinnerungs­stätte Dom und der hier aufge­führten christ­lichen Leit­erinnerung von Tod und Aufer­stehung Jesu Christi verbinden. Für jüngere Braunschwei­gerinnen und Braun­schweiger blieb die Mahnung: „Nie wieder Krieg“, diese aller­dings auch in Verbin­dung mit einer eigen­artigen Melange kommuni­zierter Emotions­eindrücke aus verhin­dertem Stolz einer einst besonders schönen Stadt − der Stadt Heinrichs des Löwen −, einem Wissen um langes, zu langes Schweigen insbe­sondere über das Thema Schuld, vielleicht auch einer Scham darüber, dass in Braun­schweig die Nazis so viel Macht erhalten hatten, dass sie sich den Dom für zehn Jahre, von 1935 bis 1945, als nationale Weihe­stätte aneignen konnten. Was ich bei meiner Forschung nur sehr schwach wahrnehmen konnte, war eine Generationen­einheit der Kriegskinder, deren späte Erzählungen ein Bewusst­sein der Verbunden­heit mit anderen ausge­bombten Kriegs­kindern über die lokalen Grenzen hinaus zeigten. Diesen Umstand hatten die Verant­wortlichen des „Prélude for Peace“ ähnlich wahr­genommen und wollten ihn für gegen­wärtige und kommende Generationen zu ändern beginnen. Dazu musste die Bomben­nachts-Erinnerung aus der Bewahrung und Pflege durch eine geschlossen erschei­nende Generation gelöst und auch Jüngeren aktiver Anteil daran ermöglicht werden. Mit dieser Gedenkver­anstaltung sollte ein provo­zierendes Auf­rütteln des Publikums erreicht werden, dass die Erinnerung an die Stadt­zer­störung mit einer Erinnerung an aktuelle Kriegs­ereignisse weltweit verband und die eigene Verant­wortung für ein zukünftiges Leben in Frieden deutlich machte. Im Hinter­grund stand das Vorhaben der heutigen Dom­predigerin Cornelia Götz, an ihrer Citykirche die Ein­richtung eines Nagel­kreuz­zentrums zu ermöglichen.

Prélude for Peace

Im Zusammenspiel von Kunst und Religion, von Bild, Klang und Wort gelang bei diesem „Prélude for Peace“ tat­sächlich in ein­drück­licher Weise das Auf­rütteln des Publikum einer­seits und anderer­seits die Wahrung einer letzten seelsorg­lichen Grenze, die den Ort als Ort der Friedens­botschaft und Barm­herzig­keit erkennbar ließen. Orchester­direktor Martin Weller hatte aus dem Stadt­archiv historische Foto­grafien von der brennen­den und zer­störten Stadt sowie Film­auf­nahmen der Bomben­abwürfe über Braun­schweig aus der Luft­perspektive von der Royal Air Force geliehen, aber zudem auch Auf­nahmen der Atombomben­abwürfe auf Hiroshima und Nagasaki, vom durch den IS zerstörten Palmyra und als einzige Foto­grafie, auf der ein mensch­liches Angesicht zu sehen war, die weithin bekannte des soge­nannten Napalm-Mädchens aus dem Vietnam­krieg ausge­sucht. Über Projek­toren wurde der sonst dunkle Dom mit diesen Bildern in einer durch­choreo­grafierten Reihen­folge ausge­leuchtet. Dazu spielte das Braun­schweiger Staats­orchester Musik, die bewusst nicht zur Ent­spannung ein­laden sollte, sondern mit Werken von Penderecki, Firsova, Mussorgski und Ligeti unange­nehm an den Nerven zerrte. Einen gewissen Aus­gleich schafften Kompo­sitionen von Webber und Bach. Denn nachdem das Publikum bei der Performance aus Illumi­nation und Musik bis zu dem Moment geführt wurde, dass es meinen konnte, die Kirchenwände müssten eigentlich gleich einstürzen, erlaubte das Programm eine Erholungs- und Reflexionspause beim „Pie Jesu“ von Andrew Lloyd Webber. Das eingängig-besinn­liche Gesangsstück aus Webbers Requiem nimmt eine Sequenz aus dem mittel­alterlichen Hymnus „dies irae“ (Tag des Zorns, als Jüngstes Gericht gedeutet) auf, der lange Zeit fester Teil der römisch-katholischen Toten­messe war. Diese Anrufung des barm­herzigen Jesus, zu welcher nun allerdings das fliehende kind­liche Kriegs­opfer gezeigt wurde, ermög­lichte dem Publikum, in diese Bitte um Vergebung und Versöhnung nun auch persönlich innerlich mit einzu­stimmen, − im Wissen um die eigenen nicht wahrge­nommenen Chancen, Frieden zu schaffen, aber auch stellver­tretend als Mensch für die Schuld der Menschheit. Damit endete der Abend nicht. Aber es war Wesent­liches geschehen, dass den Sinn von Kriegs­erinnerungen durch Nach­kriegs­generationen erkennbar machte.

  • Es hatte keine Verur­teilung von Personen oder Personen­gruppen statt­gefunden, sondern es wurde die ver­heerende Kraft kriege­rischer Taten vor Augen und Ohren geführt, die von Zuge­hörigen unter­schied­licher Genera­tionen verübt wurden.
  • Es war allen unmiss­ver­ständlich klar geworden, dass es Krieg und Zer­störung wirklich gegeben hat und immer noch gibt.
  • Es war durch die Sprache der Kunst deutlich geworden, dass neue Perspek­tiven möglich und nötig sind, um Zukunft in Frieden zu gestalten.
  • Es war die Endlich­keit des mensch­lichen Lebens poetisch aufgeführt worden.
  • Und es war die verbindende Kraft der Kultur sowie nicht zuletzt der christ­lichen Religion mit ihrer Friedens­botschaft anschau­lich geworden. Denn durch den Auf­führungs­ort mit seiner Geschichte, zeichen­haften Architek­tur und Ästhetik sprach das Evangelium an diesem Abend mit. Die positive Funktion christ­licher Religion, mit Kontingenz umzugehen, also mit der Offenheit und Zufällig­keit des mensch­lichen Lebens, mit als schick­sal­haft erfahrenen Ereig­nissen zurecht zu kommen, war erkennbar, zumindest für die­jenigen, die mit der Bedeutung der sicht­baren religiösen Zeichen vertraut waren.

Dass das historische Ereignis ent­scheidend zur Befreiung vom Nazi­terror beige­tragen hatte, war in den großen lokalen Medien der Stadt Braun­schweig bereits Konsens und natürlich hatte es an den großen Jahres­tagen Veran­staltungen zur kritischen histo­rischen Aufar­beitung und Ver­söhnungs­veran­staltungen im Aus­tausch mit der Braun­schweiger Partner­stadt Bath gegeben. Für Braun­schweigs City­kirchen­arbeit aber war nun an dem Abend ein öffent­licher Schritt getan, um diesen empfind­lichen lokalen Erinnerung­sort „Bombennacht“ mit Sinn­fragen zu konfron­tieren, die über ein „Nie wieder“ hinaus­gingen. Der Raum, um Visionen vom Mitein­ander in Frieden über die Stadt­gemein­schaft hinaus zu ent­wickeln, war öffent­lich vorbe­reitet und soll mit ver­netzter Friedens­arbeit in einem trag­fähigen Konzept wie es die von Coventry ausgehende Nagel­kreuz­gemeinschaft und auch die ökume­nische Friedens­dekade anbieten, weiter Gestalt annehmen. Denn ohne konstante inter­aktive Aus­einander­setzung bleiben solche Gedenk­ver­anstaltungen doch bald hoch­kulturelle schöne Zeichen mit wenig Breiten­wirkung.

Es brauchte für diesen Schritt jeden­falls auch den Mut, letzte Zeit­zeuginnen und Zeitzeugen (ohne dass dies ein Ausdruck von Respekt­losig­keit wäre) möglicher­weise zu verstören, indem ihre Erzählungen einen anderen Ort erhielten, und zwar die 17 Uhr Andacht an diesem Tag, indem sie mit anderen Perspek­tiven konfron­tiert und gewisser­maßen mit anderen Erinnerungen vernetzt wurden. So sind auch hier die Genera­tionen­bezie­hungen nicht ganz ohne Ambiva­lenz zu gestalten gewesen. Ein solches Vor­haben ist, wie der Alterns- und Genera­tionen­forscher François Höpflinger betont, allerdings ohnehin kaum zu verwirk­lichen. Immer wenn sich tradi­tionelle Rollen um­kehren, wie es der Fall ist, wenn Ältere eher unfrei­willig vor der Auf­gabe stehen, von Jüngeren zu lernen, scheinen Identitäts­bilder in Frage gestellt und es kommt zu Reibungen (vgl. Höpflinger 1999). Angesichts dieser Reibungen kann aber auch ein Beziehungsgeschehen wieder wahrgenommen werden und sich positiv entwickeln.

Als Impulse für die Gestal­tung von außer­familialen Generationen­beziehungen über den genannten Kontext hinaus lässt sich aus dieser praktisch-theolo­gischen Analyse nun Folgendes ableiten und zusammen­fassen:

Zusammenfassung: Impulse

  1. Für die solidarische Gestaltung von Generationen­beziehungen sind tradiertes Wissen und Wert­haltungen einer­seits sowie Heraus­forderungen aktualer Lebens­wirklichkeit anderer­seits immer wieder kritisch mit­einander in einen Dialog zu bringen, um Genera­tivität stärkende Traditionen neu zu kulti­vieren, in denen Würde anerkannt, Geschöpf­lichkeit geteilt und eine Bewahrung der Schöpfung möglich wird.
  2. Wo Generationen­beziehungen thematisiert und gestaltet werden, gilt es immer wieder zu fragen, innerhalb welches oder welcher sinn­gebenden Bedeutungs­rahmen dies statt­findet. Welche Wert­schätzungen, Aner­kennungen und welches Vertrauen kommen in Inter­aktions­formen und auch ästhe­tischen Zeichen zum Ausdruck? Sind Leit­erinnerungen subjektiver oder kollektiver Art auszumachen, welche die Identi­tät prägen und so auch das Handeln beein­flussen? Welche Funktion haben diese Leit­erinnerungen? Lassen sie sich vernetzen oder derart mit anderen Perspektiven konfron­tieren, dass neue Deutungen möglich werden?
  3. Die Beziehung zu einer anderen Generation ist immer ver­bunden mit einem Akt des Trans­zendierens, der Über­schreitung der eigenen begrenzten Per­spektive durch die Auseinander­setzung mit der fremden Sichtweise, ihren Interessen und eigen­artigen Zukunfts­visionen. Orte, die auf Trans­zendenz verweisen, z.B. Kirchen, Friedhöfe, eine Schau­spiel­bühne oder ein Grenz­gebiet eignen sich besonders gut, um dort Generationen­fragen aktiv zu bearbeiten. Auch lassen sich mit Emotionen verbundene Hypothesen über trans­zendente Konzepte, Welt­bilder, Menschen­bilder, Theologien oft mit perfor­mativen Mitteln prägnanter aus­drücken, als allein durch wort­sprach­liche Rede.
  4. Wenn Fronten ver­härtet erscheinen und Schweigen zwischen Genera­tionen einge­treten ist, kann das auch durch Empfin­dungen von Scham oder Schuld­haftig­keit bedingt sein. Das Aus­probieren neuer Blick­winkel, vielleicht auch anderer Räumen und Strukturen kann Wege erkennen lassen, die aus der Scham heraus, zur Sprache führen. Die christliche Erzähl­tradition bietet hier starke Anregungen (vgl. Huizing 2016).

Antje Marina Mickan

 

Literatur:

Berger, Stefan / Kansteiner, Wulf (2019): „Antagonistische, kosmopolitische und agonale Erinnerungen an Krieg | Antagonistic, Cosmopolitan and Agonistic Memorials of War“, in: Berger, Stefan / Grütter, Heinrich Theodor / Kansteiner, Wulf (Hg.): Krieg. Macht. Sinn. Krieg und Gewalt in der europäischen Erinnerung. War and Violence in European Memory, Essen, S. 17-35.

Burbach, Christiane / Heckmann, Friedrich (Hg.): Generationenfragen. Theologische Perspektiven zur Gesellschaft des 21. Jahrhunderts, Göttingen.

Höpflinger, François (1999): Generationenfragen: Konzepte und theoretische Ansätze, Link: www.hoepflinger.com/fhtop/Generationenfrage.pdf.

Huizing, Klaas (2016): Scham und Ehre. Eine theologische Ethik, Gütersloh.

Kaiser, Helmut (2010): Generationen gemeinsam unterwegs. Ethisch-theologische Voraussetzungen für ein gelingendes Zusammenleben und Zusammenarbeiten, Spiez. Link: www.refbejuso.ch/fileadmin/user_upload/Downloads/Gemeindedienste_und_Bildung/Generationen/Aktuell/Grundlagenpapier_definitiv_2010_11_2.pdf.

Lüscher, Kurt u.a. (2017): Generationen, Generationenbeziehungen, Generationenpolitik. Ein mehrsprachiges Kompendium, Konstanz 2017; Link: http://hdl.handle.net/10419/174885.

Mannheim, Karl (1928/1929): Das Problem der Generationen. Kölner Vierteljahreshefte für Soziologie, 7 (1928), S. 157-185 und (1929), S. 309-330.

Mickan, Antje (2015): „Sieh doch: Ich bin Alt!“ Deutungen biblischer Texte zum Alter(n) im Kontext geronto-poimenischer Fragestellungen, Berlin.

Schimpf, Eckhard (2010) „Zeitzeugenschaft“, in: Hesse, Anja / Boldt-Stülzebach, Anette (Hg.): Zeitzeugen erinnern sich an den 14./15. Oktober 1944: Die Nacht in der die Bomben fielen, Braunschweig, S. 20-23.

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