Februarthema 2021:
Altersbilder in Geschichte und Gegenwart
Bei diesem Artikel handelt es sich um die Berarbeitung eines nicht ganz neuen, aber inhaltlich noch immer aktuellen Vortrags anlässlich der Tagung „Alternde Gesellschaft“, veranstaltet von der Evangelischen Akademie Abt Jerusalem am 29. November 2013 in Braunschweig.
Aufgrund der Länge des Beitrages wurden die Absätze als Aufklappelemente gestaltet. Bitte klicken Sie hierzu auf die grau unterlegten Überschriften.
Auf den ersten Blick scheint es sich bei Altersbildern um etwas schlicht Normales zu handeln, über das eine Diskussion nicht lohnt. Schon Kinder verfügen über Altersbilder. Sie ordnen beispielsweise den „Opa“ und die „Oma“ einer Personengruppe zu, von der bestimmte Verhaltensmuster erwartet oder gerade nicht erwartet werden. Altersbilder begleiten den Menschen in verschiedenen Variationen ein Leben lang als selbstverständlicher, kaum hinterfragter Teil des Alltagswissen. Bei der genaueren Betrachtung allerdings können sich Altersbilder als komplexe Strukturen mit einer oft langen Geschichte entpuppen. Sie sind für die Gemeinschaften, in denen sie geteilt und weitergegeben werden, von Wirksamkeit für das soziale Miteinander und zeigen so ihrerseits Aufschlussreiches über diese Gemeinschaften. Aus praktisch-theologischer Sicht ist daher auch zu fragen, welche Altersbilder in der biblischen Tradition zu finden und wie mit diesen Bildern, die Teil der christlichen Religionskultur sind, heute bewusst umgegangen werden kann.
Einführung zu Altersbildern als Kommunikationskonzepte
Ich möchte zur Bestimmung dessen, was Altersbilder sind, das Augenmerk zu Beginn auf die im Begriff genannte Grundkategorie der Bilder lenken.
Bei Bildern kann es sich ebenso um rein geistige Vorstellungen handeln wie um Fotografien auf Papier oder auch um großangelegte Deckengemälde einer Kirche. Ebenfalls Klänge und sonstige sinnlich wahrnehmbare Reize sind in der Lage bildliche Vorstellungen auszulösen. Bilder können aus nur wenigen ‚Linien‘ bestehen und damit doch deutlich auf einen realen Gegenstand verweisen oder eine enorme Vielzahl von Einzelheiten enthalten, die nicht in Worte zu fassen ist. Ganz gleich wie realgetreu diese Bilder auch erscheinen mögen, immer handelt es sich um Konstruktionen, nie um greifbares, faktisches Sein des Abgebildeten.
Kulturell mit Bedeutung aufgeladene und kommunizierte Bilder steuern seit jeher die Wahrnehmung der Menschen. Sie enthalten Informationen über Erkennungszeichen von etwas, vermitteln den Wert dessen, worum es geht, wie ebenso Vorstellung vom Guten, Schlechten, Schönen, Hässlichen und viel, viel mehr.
So schafft sich jede Kultur, jede Religion ihre eigen bildlichen Deutungsmuster, welche die Welt erklären, ihr einen Sinn beimessen und Orientierung in dieser Welt ermöglichen. Auch das, was Alter und Alt-Sein bedeutet, wird in unterschiedlichen Kulturen und Subkulturen zu unterschiedlichen Konzepten zusammengefasst und kommuniziert. Diese Kommunikationskonzepte können als stereotype Bilder reale Phänomene stark vereinfachen und die Wahrnehmung von Wirklichkeit damit erheblich einschränken oder aber Facettenreichtum und Offenheit für Neues, Unbekanntes in sich vereinen. Sie sind selbst jedoch nie Realität.
Es handelt sich also beim Alter um eine sozio-kulturelle Größe, deren Bestimmung nur je in Abhängigkeit vom Kontext der Betrachtung in Diskursen ausgehandelt werden kann. So ist es tatsächlich fraglich, ob es ein Alter gibt, das jenseits seiner Bilder, Definitionen und Konstrukte existiert. Ähnliches gilt für Phänomene wie Krankheit, Gesundheit, Liebe oder Glück. Doch rufen Krankheit, Gesundheit, Liebe oder Glück im gesellschaftlichen Diskurs bei weitem nicht eine derartig polarisierende Wirkung hervor wie das Alter oder vielleicht besser gesagt die „Altheit“[1].
Der Sozialwissenschaftler und Gesundheitsexperte Gerd Göckenjan sieht die Ursache für den Polarisierungseffekt des Alters in einem seit den 1920er Jahren feststellbaren Zwang zum Parteiergreifen für die Alten, die ja hilfsbedürftig, benachteiligt und zu kurz gekommen seien. Das rufe unvermeidlich Zweifler auf den Plan, mit kritischen Fragen wie: „sind die Alten eigentlich wirklich schwach und hilfebedürftig, haben sie nicht tatsächlich luxuriöse Renten, demonstrieren sie nicht überlegene Kaufkraft und Kauflust? Sind die Alten nicht in Wirklichkeit gierig, mächtig, impertinent? Leben die Alten nicht immer auf Kosten der Jungen, und kann das richtig sein?“[2] Dieser provokante Fragenkatalog Göckenjans aus dem Jahr 2000 stellt ein fast haarscharfes Abbild dessen dar, worauf vier Jahre später sein Fachkollege Reimer Gronemeyer aufbaut, um einen Kampf der Generationen, Alt gegen Jung, der sich in nicht ferner Zukunft an der finanziellen Verteilungslage entzünden werde, als unvermeidbar herzuleiten, wenn nicht eine neue Alternskultur des Verzichtes dagegen wirke. – Welche längerfristigen Auswirkungen die Corona-Pandemie seit 2020 auf die gesellschaftlich geteilten Altersbilder haben wird, bleibt abzuwarten. Aktuell ist der Zusammenhang von Alter und Schutzbedürftigkeit im öffentlichen Dialog besonders dominant.
Die Frage: „Wer sind die Alten, was brauchen sie für sich und der Rest der Bevölkerung von ihnen?“ bietet deutlich sozialpolitischen Zündstoff. Sie ist heikler als die Frage nach dem Glück.
[1] Hierauf spielt Göckenjan (2000, 15) an und gibt als Quelle an: Wambach (1992), Manfred M.: Altenheit, Stichwort in: Bauer, Rudolph (Hg.): Lexikon des Sozial- und Gesundheitswesens, München, Wien.
[2] Göckenjan 2000, 14.
Wenn hier heute von Altersbildern die Rede ist, sind also zuerst die Konzepte in den Köpfen der Menschen gemeint, die auf verschiedene Weise und verschiedenen Ebenen kommuniziert werden und sich dabei auch in visuellen Bildern niederschlagen, die dann ihrerseits am Aufbau von Denkbildern beteiligt sind.
Bis in der Moderne die Massenmedien erfunden wurden, geschah die Vermittlung von Altersbildern überwiegend durch das Erzählen von Mythen, Sagen, Märchen, aber auch durch Sitten, Gebräuche und nicht zuletzt durch die Überlieferung sowie Auslegung biblischer Text über Alte und die Bedeutung des Alters. Diese traditionellen Vorstellungen sind in unserer Gesellschaft heute durchaus noch präsent, wenngleich sich nicht nur die Kommunikationsgewohnheiten enorm geändert haben, sondern Menschen höheren Alters heute in nie dagewesener Quantität und Qualität die Bevölkerungsstruktur der westlich-industrialisierten Länder bestimmen. Aber gerade diese älteren Kohorten, also Gruppen von Jahrgängen wie die 1930er, -40er, -50er Kohorten, haben zur Zeit ihrer Sozialisation in anderer Weise gelernt, was Alter bedeutet, als junge Menschen heute angesichts von Globalisierung, von stark gewandelten Kommunikationsmöglichkeiten und Kommunikationsgewohnheiten.
In der wissenschaftlichen Literatur zu Altersbildern besteht ein einhelliger Konsens darin, dass heute das Erlernen von Altersbildern vorzugsweise durch Medien und eben auch Werbung erfolgt. Über individuelle Altersbilder der Angehörigen einzelner Berufsgruppen, die viel mit Menschen höheren Alters in Kontakt kommen, liegen relativ viele Untersuchungen vor. Weniger erforscht ist dagegen, wie das eigene Erleben bspw. der Großeltern oder Nachbarn die Aneignung individueller Altersbilder in der Kindheit beeinflusst. Grundsätzlich wird jedoch die private Kommunikation als ein Wirkfaktor zur Entwicklung von Altersbildern mit bedacht und Möglichkeiten zur Schaffung von Raum für den Dialog zwischen den Generationen werden wissenschaftlich ausgelotet, gefordert wie politisch gefördert. Denn es ist von einem mehr oder minder intensivem Prozess des Abgleichens von durch Medien erlernten kulturellen Altersbildern und dem eigenen Erleben von Personen, die sich als alt zu erkennen geben, auszugehen. Wobei die Wahrnehmung ihrerseits durch die bereits erlernten Konzepte bestimmt wird. In jüngeren Jahren betrifft dies die Fremdwahrnehmung, in den älteren zunehmend auch die Selbstwahrnehmung, die wiederum in das individuelle Altersbild einfließt. So ist es kein Wundern, dass gerade Ältere bei Untersuchungen der letzten Jahre ein Altersbild beschrieben, das die Ambivalenzen dieser Lebensphase deutlicher widerspiegelte als das der jüngeren Versuchsteilnehmenden. Und da Bildung das Reflexionsvermögen trainiert, erstaunt auch nicht, dass die Differenziertheit von Altersbildern mit steigendem Bildungsniveau zunimmt.
Zur Klärung der Frage: „Wie funktionieren Altersbilder?“ ist wiederum relevant, dass Altersbilder immer in Abhängigkeit zu einer bestimmten kulturell geprägten und sozial strukturierten Gemeinschaft stehen, die auf differierenden Ebenen miteinander interagieren. In der Sozialwissenschaft unterscheidet man grob drei soziale Ebenen auf denen Kommunikation unterschiedlich funktioniert. Eine solche Unterscheidung zu treffen ist auch als Grundlage für das Verstehen von Altersbildern als Kommunikationskonzepte sinnvoll.
Die oberste, die Makro-Ebene bildet die Gesellschaft. Zur Gesellschaft gehören alle, die die Möglichkeit haben, sinnhaft miteinander zu kommunizieren, und zwar unabhängig von besonderen Voraussetzungen, die sie als Mitglieder der Gesellschaft qualifizieren. Die Makro-Ebene schießt die folgenden Ebenen in sich ein. Die darunter bzw. darinnen befindliche Meso-Ebene wird durch Organisationssysteme innerhalb der Gesellschaft gebildet. Von der Sozialversicherung über die Kirchen bis zum Kegelverein sind auf dieser Ebene alle sozialen Einrichtungen zusammengefasst, in welche man ein- und wieder austreten kann. Die dritte, Mikro-Ebene der Interaktionssysteme ergibt sich spontan aus dem Zusammenkommen von Personen an einem Ort. Dort ist Handeln von den Akteuren und der Situation abhängig. Als unterste ‚Ebene‘ ist dann die der Einzelperson zu nennen. Diese Ebene soll nun zuerst näher in den Blick kommen.
Stellte ich im Tagungsplenum die Frage: „Was ist für Sie das Charakteristische am Alter?“, würde dies sicher ganz verschiedene Äußerungen erbringen, die das Ergebnis von Erziehung, Bildung, sonstiger Erfahrung und eigenem Nachdenken sind und die wohl auch dadurch, dass sie typisieren, also ihren Gegenstand vereinfachen, der subjektiven Orientierung nützen. Würden im Alltag Stereotype in jedem Anwendungsfall daraufhin hinterfragt, ob sie ihren Gegenstand vielleicht zu sehr vereinfachen, wären rasche Entscheidungen und spontanes zielgerichtetes Handeln kaum möglich. So sind im Allgemeinen auch stereotype Altersbilder nicht negativ zu beurteilen, sondern gewissermaßen überlebensnotwendig. Sie können – im Gegensatz zu Vorurteilen – auch Annahmen mit positiver Bedeutung beinhalten, unterscheiden sich ansonsten aber nicht wesentlich von Vorurteilen.
Diese subjektiven Vorstellungen wirken sich auf der nächsten Ebene im zwischenmenschlichen Kontakt unweigerlich aus, und zwar umso stärker, je starrer das Altersbild stereotyp ‚konserviert‘ ist. Hinzukommen Einflussfaktoren, welche die Anwendung von Stereotypen grundsätzlich befördern: Müdigkeit, Angst, Ärger oder auch eine ausnehmend gute Stimmung lenken die Wahrnehmung stärker als üblich in grobe Kategorie-Raster.
Als besonders negativ gilt in der Alternsforschung ein patronisierendes Verhalten Älteren gegenüber, welches leider oft gerade aus beruflichen Rollen heraus auf dieser Ebene gezeigt wird, wenn für die Agierenden Alter selbstverständlich mit Defiziten gekoppelt zu sein scheint. Zur Erläuterung heißt es im Sechsten Altenbericht der Bundesregierung:
„Patronisierende Kommunikation wird ein Kommunikationsverhalten genannt, bei dem zum Beispiel lauter als üblich gesprochen wird, stark vereinfachend gesprochen wird, bei dem ältere Menschen wie Kinder angesprochen werden (Baby Talk), bei dem viele Verniedlichungen und Verkleinerungen verwendet werden und bei dem eher Small Talk betrieben wird.“[1] Außerdem wird unter patronisierende Kommunikation gefasst, wenn die sprechende Person ihre Überlegenheit und richtungsweisende Dominanz mit Worten und Gebärden zum Ausdruck bringt. Ein solches Verhalten hat häufig zur Folge, dass die angesprochenen Älteren die komplementäre Rolle annehmen und ein Verhalten zeigen, das eigentlich Unmündigen zukäme. Und patronisierendes Gebaren erzeugt außerdem beim Gegenüber leicht ein Gefühl tatsächlicher Unmündigkeit, mitunter gefolgt von ernsten Zweifeln an der eigenen Kompetenz. Dass Zeitdruck in Pflegeeinrichtungen ein solches Verhalten der Angestellten den Betreuten gegenüber verstärken kann, liegt auf der Hand. Aber auch allzu gut gemeinte Fürsorglichkeit mag eine entmündigende Wirkung nach sich ziehen.
Positive Stereotype, welche einseitig von grundsätzlicher Leistungsfähigkeit und mit den Jahren wachsender Kompetenz ausgehen, tragen dagegen das Risiko einer Überschätzung der im Einzelfall tatsächlich verbliebenen Fähigkeiten in sich, so dass ein akuter Handlungsbedarf eventuell nicht erkannt wird, zumal vielleicht die Mutter, der Vater diese Rolle der souveränen Selbstständigkeit gerne mitspielt, selbst wenn eine Hilfe, bspw. im Haushalt oder bei bürokratischen Angelegenheiten, dringend erforderlich wäre.
Stereotype haben auf dieser Ebene, wo interagiert wird, immer zwei Seiten, die der Fremdtypisierung und der Selbsttypisierung. Aber, sind die angewendeten Stereotype eben nicht erstarrt, geschieht besonders auf dieser Begegnungsebene eine Erweiterung und Veränderung individueller Altersbilder.
Gehen wir eine Stufe weiter auf die Meso-Ebene, so haben wir es mit Altersbildern zu tun, die von einem breiteren Kollektiv vertreten werden oder die in gesetzlichen Regelungen manifest wurden. Sie sind damit weit über den Einzelfall hinaus wirksam. Das prägnanteste Beispiel für institutionalisierte Altersbilder, die sich hier finden, ist sicher die gesetzliche Rentenregelung mit festgesetztem Eintrittsalter. Oder denken Sie an kollektive Altersbilder, die sich in den Leitlinien von Sozial- und Pflegeeinrichtungen und in der Personalausbildung niederschlagen.
Innerhalb von verschiedenen Organisationen sind unterschiedliche Entscheidungen relevant, die Alter konzeptualisieren, so dass kollektive Altersbilder von Organisation zu Organisation stark variieren können, und dies sogar im gleichen Arbeitsfeld. Irmhild Saake verglich Altersbilder der stationären und ambulanten Altenpflege miteinander. Sie erhob bezeichnende Unterschiede, die nicht mit den dort gepflegten Menschen in Verbindung standen, also nichts über diese Menschen aussagten. Sondern die jeweiligen Altersbilder spiegelten mit ihrer Differenz voneinander die abweichende Situation von Arbeitskräften wider, einerseits in einem Feld, wo wenig Rücksichtnahme auf die unterschiedlichen Biografien der alten Menschen möglich ist, und andererseits in einem Feld, wo die Tätigkeit von betreuter Person zu betreuter Person individuell gestaltet oder zumindest gerahmt ist. Selbstverantwortung der Alten zeigte sich bei dieser — allerdings schon relativ alten — Studie in der ambulanten Pflege als integraler Teil des Altenbildes, in der stationären Pflege — damals — nicht. Von Älteren und ihren Angehörigen, die vor einer Entscheidung stehen, ob der Lebensabend in einem Heim oder mit ambulanter Pflege zu Hause verbracht werden soll, wäre daher auch zu bedenken, dass ihnen hier oder dort unterschiedliche Altersbilder begegnen werden, sie also vielleicht nicht nur Abschied von ihrer vertrauten Umgebung nehmen müssen, sondern sie die Menschen in einer anderen Umgebung auch anders wahrnehmen werden.
Die Altersbilder der Meso-Ebene sind größtenteils normativ, sie beschreiben folglich Rechte und Pflichten von Menschen in einem bestimmten Alter sowie von Personen, die mit Menschen in einem bestimmten Alter zu tun haben, oder sie legen fest, was im Alter als „normal“ zu gelten hat, worauf Wert gelegt werden soll und worauf nicht. Dazu gehört z.B. die Nachfrage eines ehrenamtlichen Engagements von Senioren und Seniorinnen in den Kirchengemeinden und Kirchengremien.
Auf der sozialen Makro-Ebene sind wiederum andere Funktionen von Altersbildern festzustellen. Kollektive Deutungsmuster zur Bestimmung, wer die Alten sind und welche soziale Stellung sie in der Gesellschaft einnehmen sollen, werden in Deutschland öffentlich ausgehandelt. Dazu gehören nicht nur politische Diskurse der Abgeordneten von Stadt, Kreis, Land und Bund oder Wissenschaftsdiskurse der Altersforschung, sondern ebenso Fernseh- und Rundfunkdiskussionsrunden zum Thema oder Informationssendungen mit veröffentlichter Zuschauerreaktion. Die wechselseitige Verständigung auf dieser Ebene kann zeitverzögert stattfinden, sie ist unabhängig von der Situation mit gerade Anwesenden, sondern geht über diese Bindungen hinaus. Je nach Ausrichtung der Kommunikation als politisch, wissenschaftlich, ökonomisch, medizinisch, religiös oder anders wirken unterschiedliche Fragestellungen auf die Formulierung von Altersbildern ein, so dass je ganz verschiedene Altersbilder formuliert werden.
Zumal die Makro-Ebene die Gesellschaft insgesamt repräsentiert und damit die anderen Ebenen in sich einschließt, stehen diese nicht ganz unverbunden nebeneinander. Von einer Wechselwirkung und teils fließenden Grenzen ist auszugehen. Und gerade angesichts von Internetplattformen ist es heute leichter als früher möglich, private Kritik in der Öffentlichkeit publik zu machen, sich mit Gleichgesinnten zu vernetzen und eine gesellschaftlich wahrnehmbare Wirkung zu erzielen.
[1] Deutscher Bundestag 2010, 153.
Biblische Altersbilder
Im Pentateuch und den Geschichtsbüchern finden sich die Gründungserzählungen des Volkes Israel vom Anfang der Menschheit bis zur Neuerrichtung des zweiten Tempels von Jerusalem. Hier bedeutet Alt-Sein zuerst einmal das Erreichen einer Schnittstelle,an der entweder durch jüngere Nachfolger Kontinuität einer gewachsenen Tradition zu wahren ist oder Umbrüche geschehen, die über das Leben Einzelner hinaus von Wirksamkeit sein können.[1] Und auch aus körperlicher Sicht werden Grenzen des Möglichen deutlich, welche die Angewiesenheit auf das Eingreifen des Schöpfergottes herausstreichen (z.B. Gen 18,11-13; 19,30-38; 1 Sam 3,2; 1 Kön 4,14). Schilderungen von Seh- und Kampfesstärke der Hochaltrigen Mose ( Dtn 34,7) und Kaleb (Jos 14,6-15) sind als besondere Gottesgabe zu verstehen. Bei den überlieferten Alterserscheinungen überwiegt das Defizitäre deutlich: Aufgerieben-Sein (Gen 18,12), Nicht-mehr-warm-Werden (1 Kön 1,1), Blindheit (Gen 27,1; 48,10; 1 Sam 3,2; 4,15; 1 Kön 4,15), Nachlassen des Geschmackssinnes und Gehörs (2 Sam 19,36), der Impotenz (1 Kön 1,4), Fragilität im Sinne von mangelnder Widerstandskraft und kontrollierender Kompetenz (Gen 26,34 - 28,9; 44,29.31; 1 Sam 2,22; 4,15) sowie Fußerkrankungen (1 Kön 15,23). Solange die Innovation der Gemeinschaft gelingt und der Fortgang der Geschichte im Sinne JHWHs gewährleistet ist, hat das Alter und Altern im Pentateuch und den Geschichtsbüchern allein in Bezug auf Eli und sein Ende (vgl. 1 Sam 4, 15-18) etwas Tragisches.[2] Und an keiner Stelle ist davon die Rede, dass Personen ihre formale Autorität, ihren Status innerhalb der Familie vor ihrem Tod oder Abschied einbüßen. Dem Abschied selbst kommt eine hohe Bedeutung zu (vgl. Gen 49; 1 Kön 2). In Hinblick auf die alten Patriarchen kann der Moment, in dem quasi die Essenz des eigenen Lebens in Form des Segens an die Nachkommen weitergegeben wird, als Höhepunkt der Existenz vor dem Tod angesehen werden (vgl. Gen 27,1-4.23b-29).[3] Und die Lebenserfahrung Älterer erscheint gerade durch die Darstellung des Gremiums der Ältesten mit Ratgeber- und Leitungsfunktion als wesentliche Stütze der Gemeinschaft (vgl. 1 Kön 12,6.8), auch wenn teils schon 30-Jährige zu den Ältesten gehören können.
Davon abzusetzen sind im Pentateuch und den Geschichtsbüchern Aussagen zum Alter, die ihm einen besonderen Wert beimessen. Sie verbinden dies mit unterschiedlichen Zielen. Alter ist Zeichen für Bestandskraft, der alte Menschen größerer Baustein der Geschichte und Verbindungsglied zwischen den Zeiten (vgl. Gen 5; 11,10-26). Gott ist es nach Gen 6,3 und Dtn 30,20, der das Alter dem Menschen zumisst. Alter verlangt Schutz und Respekt. Sich nicht um die Alten zu sorgen, sie nicht zu versorgen heißt, einen Teil der eigenen Geschichte und damit Identität zu missachten (vgl. Lev 19,32; Dtn 5,16; Gen 42,38; 44,29.31). Darüber hinaus rücken die Alten als Zeitzeugen, Bürgen der Wahrheit und des göttlichen Heilshandelns in den Blick(vgl. Dtn, 32,7; Esr 3,12). Mit dem Voll-Werden der Jahre erlangt ein Leben Erfüllung, idealerweise bis Sattheit erreicht ist, doch dies bleibt das Besondere und wird nur von wenigen berichtet (Gen 25,8; 35,29; Ri 8,23; 1 Chr 29,28; 2 Chr 24,15f.)[4]. Für den einfacheren Menschen stellt es sich als großer, anzustrebender Wert dar, den Status der Grauhaarigen zu erreichen (vgl. Gen 15,15; Ri 8,32).[5] Die damit verbundene Fragilität erscheint in den wertenden Texten weniger als Zeichen von Schwäche, denn Lebensleistung, -verausgabung und -beanspruchung. Das faktische Leid wird entweder ausgeblendet oder idealisiert dargestellt und zum Zeichen für den Bedarf einer vorzüglichen Behandlung (vgl. Gen 42,38; 44,29.31). In der altisraelitischen Überlieferung könnte Alter als Code für die Kenntnis guter Sitten und großzügige Gastfreundschaft gedient haben. Doch war dieser dann nicht derart dominant und beständig, dass die im möglichen Grundbestand alterspositiven Texte Ri 19, 20-23.(24) und 1 Kön 13,11-15.(16-18.)19.(20-22.)23-32 bei späteren Redaktionen in ihrer ursprünglichen Intention unangetastet belassen wurden. Liest man diese Abschnitte vollständig, so zeigen sich hier alte Gastgeber als unmenschlich bzw. unehrlich. Mutmaßlich ist ein Misstrauen den Alten gegenüber in späterer Zeit gezielt in das Altersbild eingetragen worden, so dass eine Facette von Ambivalenz im Alterskonstrukt dieser Schriften sichtbar wird.
Die ältere Spruchweisheit des AT lehrt ein positives Altersbild, welches die besondere Ehrwürdigkeit der Älteren als hohen Status betont (Spr 16, 31; 17,6; 20,29; 22,6; 23,22). Alter und Gerechtigkeit stehen hier in einem kausalen Zusammenhang. Dieser Aspekt wird in einzelnen Psalmen aufgenommen und unterschiedlich ausgeführt oder auch infrage gestellt(vgl. Ps 37,25; 92,15; 107,16-32; 119,100). In den Blick kommt sowohl das gealterte Individuum als auch die Menschheit und ihr Altern im Kontrast zu Gottes Ewigkeit (vgl. Ps 90). Altersklage und Alterstrost gehen eine Verbindung ein (vgl. Ps 71).
Im Hiobbuch bleibt insgesamt zwar das Bild vom Alter als Ideal und Gottesgabe erhalten (Hi 12,12-25; 15,10; 21,7; 29,8), doch wird hier — wie auch im Koheletbuch — dem Stereotyp einer unbedingten Korrelation von Alter und Weisheit widersprochen (Hi 32,1-7). So wird das Altersbild in diesen Schriften aus seiner gesetzlichen Starre gelöst. Das Koheletbuch geht noch weiter und sieht ein hohes Alter nicht mehr als Wert an sich an, ruft aber gleichwohl auch Ältere zu Freude und Genuss im Leben auf (vgl. Koh 4,13; 6,3-6; 11,7f.). Zudem wird das hohe Alter als eine Zeit der Herausforderung gesehen und als Hinweis auf den Tod (Koh 11,9-12,8). Das Altersbild des Koheletbuches ist differenziert und im Schlussgedicht, einer melancholischen Altersallegorie, ist Leben, Altern und Sterben als vom Schöpfergott ausgehend und auf ihn wieder hinführend dargestellt.
In den Büchern der Prophetie ist das Alter stets nur eine Lebensphase neben anderen und wird insbesondere im Kontrast zur Jugend benannt (anders aber Hos 7,9; Jes 3,5; Joel 3,1). Die Bedeutung der Sozialität im Alter wird hier besonders betont, und zwar die Gemeinschaft der Menschen untereinander und mehr noch die Gemeinschaft mit Gott betreffend. Der Schöpfergott ist Ursprung und Ziel des Lebens (Jes 46,3f.), doch thematisieren die verheißenden Texte kaum den Tod, sondern fassen eine Sehnsucht nach Altern in Frieden und einer identitätsstiftenden Gemeinschaft in Worte (Sach 8,4; Jes 65,20).
[1] Vgl. Gen 18,11-13; 19,31; 21,2.7; 23,1; 24,1f.; 25,7f.17; 27,1f.; 35,28f.; 47,28; 48,10; Jos 13,1; 23,1f.; Ri 8,23; Rut 1,12; 4,15; 1 Sam 2,22.31f.; 4,18; 8,1.5; 12,2; 17,12; 2 Sam 19,32-41; 1 Kön 1,1-4; 2, 6; 2 Kön 4,14.
[2] Vgl. zur Begründung dieser Tragik als göttlicher Wille 1 Sam 2,22-25.31-34; 3,12-14.
[3] Auf „die feine Unterscheidung von verschuldetem Tod und geschöpflichem Tod“ (Wolff 2010, 173), die nach Wolff (2010, 173f.) auch in Gen 2-3 getroffen werde, sei hingewiesen. Die Vorbereitung auf den Tod ist in den Sterbeszenen mit feierlichen Riten verbunden. Während in den älteren Textbestandteilen die Einsetzung von Erben durch den hochaltrigen Patriarchen im Vordergrund steht, sind diese Szenen später ausgebaut worden und teils ausführliche Abschiedsreden oder Lebensbilanzen eingefügt.
[4] Außerhalb der hier fokussierten atl. Schriften wird nur noch Hiob (Hi 42,17) derart gewürdigt.
[5] Am deutlichsten wird dies in der weisheitlichen Literatur des AT (z.B. Koh 2,4; 6,3).
Im gesamten NT finden sich nur im Lukasevangelium Erzählungen von Menschen im Alter. Diese Abschnitte handeln von der heilszeitlichen Erfüllung, die sich im Leben der Alten abzeichnet (Lk 1,7.18.36; 2,25-32.36-38).Ein sich in frommer Lebenspraxis äußernder unbeirrbarer Glaube erscheint als sich dank der Schöpfermacht Gottes schlussendlich lohnender Wert. Darüber hinaus erzählen die Geschichten von der Ablösung der älteren Generation, die sich im Evangelium bei gleichzeitigem Beibehalten der Wurzeln vollzieht. In weiteren Schriften des NT wird Alter als deutliche Grenze der Eigenmächtigkeit dargestellt und auf die auch das Alter nivellierende Konstante „Glaube“, die unabhängig von der Zahl gelebter Jahre und körperlicher Einschränkungen Leben ausmacht sowie Hoffnung begründet, hingewiesen (Röm 4,19f.; Hebr 11,11f.; Joh 21,18).
Texte zur Tauflehre setzen dem Altern nicht das Jung-Sein, sondern das Neu-Werden gegenüber (Joh 3,4f.; Röm 6,6; 2 Kor 5,17). Dabei handeln sie freilich nicht von einem biologischen sondern von einem psychologisch-theologischen Alter des Menschen vor seiner Rechtfertigung durch Taufe und Glauben. Dieses Alter oder eher Verbraucht-Sein zeichnet sich in diesen Schriften durch Eigensucht, Triebhaftigkeit und Torheit aus. Die eigene Sterblichkeit kann für den neugeschaffenen Menschen in Christus bei Paulus (Röm 6,6)wie für den in der Taufe angezogenen „neuen“Menschen der Deuteropaulinen (Kol 3,9f.; Eph 4,22-24) als ein Weg zu Gott gedeutet werden.
In der neutestamentlichen Gemeindeparänese schließlich werden einerseits Alterslaster angemahnt andererseits wird die Vorbildfunktion der Älteren in der Gemeinde hervorgehoben (vgl. 1 Tim 4,7; Tit 2,2f., 1 Petr 5,5). Sie sind aufgerufen, durch ein tugendhaftes Verhalten dem gerecht zu werden. So wird auch von verwitweten, mindestens 60-jährigen Frauen in der amtsähnlichen Funktion von Gemeindewitwen berichtet (1 Tim 5,3-16). Die Ambivalenz der Rolle eines alten Menschen zwischen Ehrwürdigkeit und Schwachheit oder gar Missachtung klingt in der Phlm 9 deutlich an.
Als Reflexion eigenen Erlebens beim Alt-Werden können biblische Texte noch heute eine Basis bieten, wenn die im Hintergrund stehenden antiken Normen und streng patriarchalisch geordneten Sozialgefüge nicht unhinterfragt bleibend ins Heute übertragen werden. Denn auch im Widerspruch zu in AT und NT abgebildeter sozialer Wirklichkeit ist ein Segen unserer Zeit zu entdecken. Wenn es um das Miteinander der Generationen geht, haben diese Schriften sicher noch heute einiges zu bieten, wenn es um Selbstverwirklichung in neuen Rollen und Kreativität im Alter geht, eher nicht.[1]
[1] Als ein Beispiel, das zumindest eine Erweiterung des im Kontext des Textes stehenden traditionellen Rollenverständnisses zeigt, wäre das Rutbuch (zum Alter bes. 1, 12; 4,15, letztlich der Handlungsbogen zwischen diesen Versen) zu nennen.
.Weitere Entwicklung gesellschaftlicher Altersbilder
Für antike Philosophen, deren Altersbilder einander durchaus widersprachen, stand beim Alter seine Bedeutung als soziale Zeit im Vordergrund. Sie gelte es zu nutzen oder sie könne verschwendet werden, Menschen könnten an den Aufgaben der Zeit zu Meistern wachsen oder scheitern. Später bildete sich die Frage nach dem Alter als Trost heraus, deren wichtigste Wortführer bis ins 19. Jahrhundert die Theologen waren, da sie die Verheißung des ewigen Lebens hervorhoben und die mühselige Zeit davor als Vorbereitung auf und Prüfung für den erhofften Weg ins Paradies darstellten. Darüber hinaus hatte das Alter in vorsäkularer Zeit eine spirituelle Bedeutung inne und die Familien erwarteten von ihren sterbenden Alten den Segen, Vergebung und Versöhnung, welche angesichts einer unwürdigen Behandlung verwehrt werden und stattdessen Anklage vor Gott erhoben werden konnte. Daneben wurde auch in der weltlichen Literatur das Alter immer wieder als Frage der rechten Lebensweise thematisiert. Das würdige, liebenswürdige, fröhliche und vernünftige Alter bestimmt besonders in der Aufklärung das Altersbild. Im 17. und 18. Jahrhundert gerät das Alter außerdem in den Fokus wissenschaftlicher Betrachtung, so dass soziologisch und psychologisch orientierte Altersbilder formuliert werden, was zu einer insgesamt differenzierteren Sichtweise führte, die sich um eine medizinische und ökonomische Perspektive im 19. Jahrhundert erweiterte, als große Fortschritte in den hygienischen, gesundheitlichen und die Ernährung betreffenden Belangen zu einer allmählich steigenden Lebenserwartung der Menschen führte.
Mit der Einführung der neuen Sozialgesetzgebung Ende des 19. Jahrhundert. und spätestens seit dem großen Überschuss an Arbeitskräften in den 1920er Jahren, der gerade Ältere umso härter traf, ist nun das Alter als eine eigenständige Lebensphase greifbar, die wesentlich durch den Ruhestand charakterisiert wird, auch wenn dieses soziologische Konstrukt der Statuspassage in den Ruhestand in vielen Einzelfällen nicht greift und heute bspw. 45-jährige Frührentner und 84-jährige Berufstätige in unserer Gesellschaft anzutreffen sind.
Und ebenfalls um die Wende vom 19. zum 20 Jahrhundert beginnt sich eine Bewegung zu formieren die bis heute, wenn auch mit veränderten Zielen, dynamische Auswirkungen zeigt und das Bild vom Alter als Status und Vorbild in seiner Dominanz ablöste: Die Jugendbewegung.
Mit der Entdeckung der Jugend als neuem Ideal im Jugendstil begann eine anthropologische Innovation, die sich über Stationen einer neuen Förderung des Leistungssports, des Aufschwungs der Schönheitschirurgie und Diätetik fortentwickelte, bis hin zu den unterschiedlichen Ausprägungen von Anti-Aging. Und das Leitbild der Jugendlichkeit gewann schließlich über Grenzen des Alters, sozialen Milieus und des Geschlechts hinweg quasi universelle Gültigkeit. Daneben vollzog sich eine Verjüngung des Alters einerseits durch die Möglichkeit des vorgezogenen Ruhestands, andererseits durch eine verbesserte Gesundheit und einen aktiveren, quasi „jugendlicheren“ Lebensstil der Generationen im Rentenalter, was dazu führte, dass die Erwartungshaltungen gegenüber dem Alter verschwammen. Das Alter bietet jetzt, wie Leopold Rosenmayr es formulierte, eine späte Freiheit.[1] Statt Abgrenzung steht nun Gestaltung im Alter im Vordergrund und aus dem neuen Unruhestand hat sich die neue Aufgabe der Selbstorganisation und Selbsterfindung entwickelt. „Erstmals in der Geschichte kann ein Großteil der deutschen Bevölkerung seit dem ausgehenden 20. Jahrhundert wählen, welchem Altersbild sie nahezukommen wünscht“[2], heißt es im Sechsten Altenbericht der Bundesregierung. Doch die Lebenslage alter Menschen bedingt vielfach Einschränkungen, so dass diese grundsätzliche und bekannte Option nicht wahrgenommen werden kann. Um dieser „Spannung“[3] gerecht zu werden, bedürfe es in der Gesellschaft „differenzierter und diversifizierter Altersbilder“[4]. Eine Differenzierung, die sich seit Ende des 20. Jahrhundert erfolgreich durchgesetzt hat, ist die Unterteilung in die „jungen Alten“ und die „alten Alten“.[5] Mit ersteren ist das Bild der aktiven Senioren verbunden, die auf vielfältige Weise an der Konsum-, Medien- und Freizeitorganisation der Gesellschaft teilhaben. An sie können Ansprüche gestellt werden, sich familiär und bürgerschaftlich zu engagieren oder Vorbildfunktion auszuüben, und zwar auch bei der Suche nach eigener Identität. Denn in einer Gesellschaft, die den Glauben an ein himmlisches Paradies, ein Aufgefangen-Sein im Tod bei Gott kaum mehr tradiert, ist das innerweltliche Realisieren von Glückserfahrungen wesentlich. Für die steigende Zahl der Hochaltrigen kann eine gesellschaftliche Plicht nicht gelten. Das alte, hohe oder Vierte Alter ist das gebrechliche Alter, das auf die Solidarität der Jüngeren angewiesen ist und welches in unserer Gesellschaft immer mehr Menschen erreichen. Doch ist das Vierte Alter angesichts der Vielfältigkeit der Alternsformen heute nicht kalendarisch zu bestimmen und Menschen können sowohl Kennzeichen eines jungen als auch eines alten Alters in sich vereinen, wenn beispielsweise eine Krankheit auftritt, die eine gänzliche Selbstversorgung nicht mehr zulässt, ansonsten aber ein sozio-kulturell aktiver Lebensstil gepflegt wird.
Positive Altersbilder — und allen voran das des aktiven Alters — werden heute soziologisch wie politisch besonders befördert. Ursache hierfür sind Studien, welche den negativen Einfluss von defizitär bestimmten Altersstereotypen auf Menschen höheren Alters belegen, wenn sie diese negativen Vorstellungen und Konzepte auf die eigene Person anwenden. Gedächtnisleistungen können sich hierdurch verschlechtern oder Genesungsprozesse verlangsamen.
Die Bemühungen scheinen nicht ohne Erfolg zu sein. Bemerkenswerterweise hat der Deutsche Alterssurvey erbracht, dass Altersbilder im Kohortenvergleich mit Teilnehmenden ab 40 Jahren durchschnittlich umso positiver beschrieben werden, je jünger die befragte Altersgruppe ist. Und im Vergleich zwischen Erhebungen von 1996, 2002 und 2008 sind auch in den älteren Kohorten die Altersbilder durchschnittlich positiver geworden. Man geht davon aus, dass in der Kindheit erlernte negative Altersbilder der Älteren, einen lebenslang einen Einflussfaktor bilden.
Auch Erfolge hinsichtlich einer rückgehenden Ignorierung der Alternsthematik in den Medien wie der Werbung können mittlerweile verzeichnet werden. Dabei wird zum Teil versucht aufzurütteln, die Radikalität des Alters wahrzunehmen und ein Stück weit zu verstehen, andererseits Leben im Alter als lebenswert und facettenreich zu erkennen. Oder es wird bspw. das Altenpflegeheim als Vorabend-Krimi-Tatort gewählt und so als eine Lebenswirklichkeit, freilich konstruiert, ins Wohnzimmer der Menschen gebracht. In der Werbung sind die Senioren und Seniorinnen als finanzkräftiger Kundenkreis mehr und mehr in den Fokus geraten, so dass Sabine Femers sogar von einer „ergrauenden Werbung“ [6] spricht. Hier finden sich zunehmend nicht nur Jugend verheißende Mittel gegen alle Arten von Alterserscheinungen – vorzugsweise der Hautalterung –, sondern auch für Produkte, die an keine Altersklasse gebunden sind, werden in Einzelfällen Darsteller gewählt, die durch ihr weißes, schütteres Haar, ihre faltige Haut oder sonstige Kennzeichen als älter zu identifizieren sind. Dabei wird zum Teil mit überkommenen Vorstellungen gebrochen und die Senioren und Seniorinnen geraten in ungewohnter Weise in den Blick. Dieser Trend ist zwar wahrnehmbar, aber noch deutlich ausbaufähig. Ausbaufähig ist sicher auch ein Trend innerhalb der evangelischen Kirchen und Praktischen Theologie, sich mit dem Wandel der Lebensphase Alter und einem Ablegen verhärteter Altersstereotype, was die im Gemeindeleben anzutreffenden Älteren anbelangt, zu befassen. Es gilt Vielfalt wahrzunehmen, ältere Menschen mit anderen Lebensstilen und Lebenslagen als vor zwanzig, dreißig oder gar fünfzig Jahren anzusprechen und selbstverantwortlich in die Gemeinschaft einzubinden. Das heißt ja nicht, das fragile und tatsächlich hilfsbedürftige Alter im Stich zu lassen. Wird in den Gemeinden Selbstorganisationsfähigkeit Älterer für möglich gehalten und ihnen daher mehr Freiraum zur Selbstorganisation eingeräumt, ist es möglich Ambivalenzen zwischen Alt und Jung mit dem Ziel, eine gemeinsame Lösung zu finden, zur Sprache zu bringen. Und wenn eine Verständigung über den existenziellen Bedarf von Älteren in den Kirchen stattfindet, könnte sich hier vielleicht eine veränderte, solidarisch-emanzipierte und daher eben nicht sich selbst mit den eigenen Stärken, Schwächen und Bedürfnisse vergessende Alternskultur entwickeln.
Antje Martina Mickan
[1] Rosenmayr 1983: Die späte Freiheit.
[2] Deutscher Bundestag 2010, 48.
[3] Deutscher Bundestag 2010, 59.
[4] Deutscher Bundestag 2010, 266.
[5] Höpflinger (2009, 68) leitet aufgrund dieser berechtigten Unterscheidung kulturell eine Verjüngung der Gesellschaft ab.
[6] Vgl. Femers 2007.
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