Julithema
Bildliche Erinnerungen an die Wendezeit im Dialog mit skulpturalen biblischen Szenen
Aspekte einer Ausstellung weltlicher Künstler in der Kirche zu Lassan
Vorbemerkung und Einführung:
Die Grundlage für diesen Beitrag entstammt der Fortsetzung meines Aufsatzes „Leidenswege – visualisiert, performiert, erinnert“[1], dessen erster Teil in leicht überarbeiteter Form als Juni-Thema erschien. Aus theoretisch-analytischem Interesse sei zur Verknüpfung der Teile ein Strukturvergleich vorweggeschoben:
Bei der Ausstellung Udo Rathkes zum Buch Hiob in St. Petri, die im vergangenen Monat auf dieser Seite vorgestellt wurde, war textartige Linearität sowohl mit Blick auf die Schrift und Bild verbindenden Werke selbst als auch durch ihre nummerierte Abfolge erkennbar. So erschien die Bedeutung von Zeit hervorgehoben und es war eine Orientierung in Bezug auf davor und danach, einst und jetzt gegeben. Die im Folgenden untersuchte Ausstellung „Traum und Trauma“ zeigt sich dagegen als ein Gewebe, das der Publikumsperspektive weniger eine gelenkte Bahn vorgibt. Alles scheint zugleich präsent, kann aber nicht zugleich erfasst werden. Ein Teil der Werke nimmt auch hier direkten Bezug zu biblischen Texten, jedoch in skulpturaler Form. Ein weiterer, bildlicher Teil der Werke setzt subjektive Erinnerungen und Eindrücke um. Ungleiches trifft spannungsreich aufeinander und ergibt dabei doch kein Durcheinander, sondern ein Zusammenspiel mit überraschenden Resonanzen.
Die Kompetenz für die Einrichtung eines solchen bedeutsamen und zugleich schillernden Netzes der Kunstwerke im keineswegs neutralen Innenraum der Kirche zu Lassan, dürfte zu einem nicht unerheblichen Anteil aus den Netzwerk-Erfahrungen der Kuratorin herrühren:
Ausrichterin der Veranstaltung ist die von Ulrike Seidenschnur 1998 gegründete und kuratierte „Galerie in der Kirche St. Johannis zu Lassan“ [2]. Sowohl die Galerie als auch die Kirchengemeinde St. Johannis sind Mitglied im Netzwerk „Kräuter, Kunst und Himmelsaugen“ im Lassaner Winkel,[3] zu dem sich regionale Akteure dieser strukturschwachen Region im Hinterland Usedoms zusammenschlossen. Bei aller Verschiedenheit des Netzwerk-Angebots – von der Massagepraxis, über den Kräutergarten bis hin zur „Europäischen Akademie für heilende Künste“ – ist das Verbindende wohl am ehesten der idealistische Anspruch, mit dem Angebot positiv in die Region hineinzuwirken, den Menschen Sinnvolles zu bieten und nicht hauptsächlich ein ökonomisches Eigeninteresse zu verfolgen. Darüber hinaus wird im Anschluss an divergente Konzepte und Weltvorstellungen von den Netzwerkakteuren überwiegend auch eine spirituelle Dimension des Menschen angesprochen.
Biblische Szenen von Peter Glas und Erinnerungen an die Wendezeit von Harald Herzel
Vom 14. Mai bis 2. Oktober 2016 waren Bilder von Harald Herzel und Skulpturen von Peter Glas[4] in der Lassaner Kirchengalerie zu sehen. Das einzig Verbindende zwischen beiden scheint auf den ersten Blick ihr Alter (zur Zeit der Veranstaltung 75 Jahre) und ihre ostdeutsche Herkunft aus zuletzt Berlin bzw. Potsdam zu sein. Herzel präsentiert einerseits Landschaftsmalerei, anderseits Bilder, die sich mit umstürzenden Erfahrungen der Wendezeit im Osten Deutschlands befassen. Ein Bezug zur Kunst besteht bei ihm schon über sein Lehramtsstudium für Deutsch und Kunsterziehung. Herzel ist seit langem selbst bildnerisch tätig und hatte vor seiner Pensionierung eine Stelle als wissenschaftlich-künstlerischer Mitarbeiter am Institut für Lehrerbildung der Universität Potsdam inne.[5] Ganz anders Peter Glas. Der promovierte Physiker begann erst im Rentenalter mit der künstlerischen Arbeit. Bei ihm sind es vorwiegend sozial-anthropologische Themen, teils auch mit Zitation neutestamentlicher Tradition,[6] die er mit seinen Eisenskulpturen und -figurengruppen umsetzt.
Insgesamt zeigt die Veranstaltung „Traum und Trauma“ 2016 in Lassan 94 Exponate, für die das gesamte Kirchengebäude als Ausstellungsfläche dient. Die Objekte im Altarraum wurden von Pfarrer Dr. Reinhard Kuhl, die übrigen von der Kuratorin Ulrike Seidenschnur positioniert. Wie oben schon angedeutet entstand dabei eine Art Netzstruktur unterschiedlicher, aber doch korrespondierender Bedeutungen zu existenziellen wie auch sozialpolitischen Fragen. Durch die gruppierende Einrichtung der durchweg mit Titeln versehenen Werke nach thematischen Gesichtspunkten waren den subjektiven Sehweisen Impulse gegeben, um das Wahrgenommene miteinander ins Gespräch zu bringen.
Zwei im Weiteren besprochene Ensembles zeigten besonders auffällig das Potential, bei der Rezeption Relationen erkennen zu lassen, und zwar zwischen den Ensembles untereinander, je zum zeichenhaften Ort ihrer Positionierung und darüber hinaus zu einem rahmenartigen Bilderzyklus.[7]
Sichtachsen und Sinnproduktion
Ohne viel Vorwissen zur Ausstellungs, aber mit einem kritischen Blick auf die Aktivierung einzelner Bedeutungsaspekte durch ihre inszenierende Positionierung besuchte ich die Lassaner Veranstaltung im August 2016 im Rahmen einer kleinen „Forschungsreise“ in Vorpommern. Mein Erleben mit einem gewissen kritischen Abstand ist die Basis für die folgende Darstellung.
Beim Betreten des Innenbereiches der Kirche sind zunächst an den Wänden ringsum Landschaftsgemälde sehen, die zum üblichen abschreitend-linearen Betrachten einladen. Sie sind überwiegend in erdigen braun-grünen und blauen Farbtönen gehaltenen. Und ich erkenne zugleich an offenbar ausgesuchten Stellen positionierte Skulpturen und Figurengruppen aus Eisen oder Stahl. Einem religionskulturell etwas geübten Publikums-Blick mag ähnlich wie mir dabei recht schnell eine Spannung auffallen, welche die Aufmerksamkeit von den harmonisch wirkenden Bildern ablenkt. So ist auf einem Seitenaltar, gleich dem Eingang gegenüber, ein Werk mit vier Figuren und dem Titel „Das Urteil des Paris“ zu sehen. Links daneben liegt eine aufgeschlagene Bibel. Mir drängt sich die Frage auf: Worum geht es hier? Wer oder was hat die stärkste Deutungsmach? Interpretiert hier etwa der antike griechische Mythos die biblische Tradition oder umgekehrt? Diese Spannung aktiviert meine Aufmerksamkeit auf ähnliche Konfrontationen divergenter „Welten“[8] bzw. Kultursphären, von denen ich gleich berichten werde.
Zunächst begegnet mir bei meinem Ausstellungsbesuch die Kuratorin und gibt im Kurzgespräch Hinweise zur Gleichaltrigkeit, zur je ostdeutschen Herkunft und zur ursprünglichen Profession der Künstler. Außerdem vermittelt sie Informationen zu einem besonderen Ausstellungsbereich mit „heftigen“ Bildern von Harald Herzel, welche die Ereignisse der Wendezeit verarbeiten, was mich natürlich neugierig macht. Auf dem Weg zu diesem etwas abgesetzten Ensemble im Vorraum zu einem Treppenaufgang fällt mir zunächst der Hochaltar mit den dort eingerichteten Figurengruppen ins Auge. Direkt auf dem Altartisch vor dem Kreuz befindet sich eine in Stahl geformte Kreuzigungsgruppe mit dem von Peter Glas gesetzten Titel „Der fehlende Schatten“. Und tatsächlich sind auf der verbindenden Bodenplatte des Objekts beim genauen Hinsehen nur bei den Kreuzen rechts und links dunkle Schattenrisse zu erkennen, am Fuße des mittleren Kreuzes dagegen nicht. Das gibt mir zu denken. Und während ich noch beim Nachsinnen bin, gleitet mein Blick von dort zu zwei weiteren Skulpturenensembles mit einem der biblischen Tradition entlehnten Titel, der Schuld und den Umgang mit Schuld thematisiert: Rechts neben dem Altar befindet sich das Werk „Wer von euch ohne Sünde ist“ (vgl. Joh 8,7). Es zeigt eine Reihe von vier Gestalten und eine fünfte, davor stehende mit einem Stein in der erhobenen Hand. „Der 'schattenlose' Jesus hat einen solchen Stein auf niemanden geworfen, doch wie nah, wie fremd ist diese reine, lichtvolle Existenz?“, geht es mir durch den Kopf. In einer weiteren Szene „Beim letzten Abendmahl“ scheint es wiederum um Schuldzuweisungen zu gehen, so richtet beispielsweise eine der Figuren den ausgestreckten Arm und Zeigefinger auf eine andere. Durch ihre kantig-schrundige und grob gestaltete Silhouette spiegeln die Skulpturen grundlegende Eigenschaften menschlichen Daseins und Miteinanders ungeschönt. Dass Peter Glas sich selbst nicht als religiös versteht und diese Arbeiten in seinem Werkzyklus zu Mythen und Märchen einordnet,[9] erfuhr ich erst später und konnte es aus der Darstellung heraus nicht schließen. Doch irritierte mich immerhin der „Gesichtsausdruck“, die groß aufgerissenen erscheinenden Augen des schattenlosen Jesus am Kreuz des Objekts auf dem Altar. War das ein Entsetzten Christi über die eigene nicht-menschliche Unschuld? Das wäre aus theologischer Sicht eine steile Provokation. – Später erfahre ich, dass Pfarrer Reinhard Kuhl die Szene ganz anders deutete, den fehlenden Schatten als positives Zeichen des göttlichen Lichtes in dem sich zu verklären beginnenden Jesus ansah.[10] Über diese Ansichtsweisen ließe sich gut streiten. Darin aber, dass im Rahmen der Ausstellung dem christlichen Gemüt ungewohnte Denkanstöße gegeben werden, stimmt Kuhl laut seiner Eröffnungsrede mit mir deutlich überein. – Möglicherweise wird ein nicht konkret beschreibbarer Abstand des Künstlers Peter Glas zu traditionellen christlichen Deutungen doch unterschwellig durch die Formensprache kommuniziert, die mit der Formensprache Harald Herzels erstaunlich korrespondiert. – Indem nun meine Aufmerksamkeit beim Ausstellungsbesuch vom Altar weg, hin zu den farblich schrillen, drastischen Bildern Herzels im abseitigen Ausstellungsbereich wandert, nehme ich nicht allein Gedanken an das Thema Schuld und Beschuldigung mit, sondern auch eine Ahnung, dass ähnliche Erfahrungen der Gleichaltrigen die jeweiligen künstlerischen Ausdrucksweisen motiviert haben könnten. Die Malerei in dieser Art Kirchen-Abseite ist nicht schön, aber eindrücklich. Insbesondere Darstellungen einer abrutschenden nackten Frau (Titel: "Aufbrechen") und eines nackten, kopfüber fallenden Mannes (Titel: "Abstürzen") bilden für mich innere Zustände und traumatische Verrückungen ab. Bei der Reflexion der thematisierten politischen und sozialen Verstrickungen mag nicht nur mir, sondern auch anderen Ausstellungsgästen das zuvor gesehene „Wer von euch ohne Sünde ist“ noch präsent sein und damit Einfluss auf die Deutung, die eigenen Erinnerungen und urteilende Schlussfolgerungen nehmen. Im zweiten Schritt als Frage vorbereitet ist für mich in diesem Raum der Bezug der psychosozialen Thematik der Werke von Harald Herzel und Peter Glas zu zentralen Aussagen der christlichen Evangelien. Will ich wirklich mentale oder verbale Steine auf diejenigen werfen, die in der DDR zu den Strukturverantwortlichen gehörten? Was bedeutet mir eine Trennung in die Guten und die weniger Guten von damals? Kann Versöhnung gelingen ohne dass Erinnerung aufhört?
Weltliche bzw. kulturelle Exemplifikationen zu „Traum und Trauma“ zeigen sich quasi durch die den Raum einrichtende Arbeit von Pfarrer Reinhard Kuhl und Kuratorin Ulrike Seidenschnur um eine theologische Dimension – als Gesprächsangebot – erweitert. Wer diesen Transzendenzbezug nicht herstellen mag, kann das spannungsreiche Zentrum der Ausstellung eingebunden und aufgefangen sehen in dem ringsherum an den Kirchenwänden zu sehenden, sich aus harmonischen Darstellungen der Landschaft wie der am Peenestrom zusammensetzenden Bilderband bzw. im dort thematisierten größeren Ganzen der Natur.
Für die Auseinandersetzung mit den aktiv oder passiv als leidvoll erfahrenen Ereignissen der Wendezeit einschließlich daraus resultierender Nachwirkungen bis in die Gegenwart oder für die Auseinandersetzung mit der Thematik von Schuld, Scham und Verstrickung im Allgemeinen bot die Ausstellung „Traum und Trauma“ sehr anregenden Stoff, der sich insgesamt um etliche Aspekte reicher zeigte als hier skizziert. In Lassan wurde er in Form von Gottesdiensten zur Vernissage und Finissage auch explizit mit einer christlichen Sichtweise verknüpft. Und, andersherum, wurde durch die dem Anderen Raum gebende Haltung von Pfarrer Kuhl und Kuratorin Seidenschnur auch ermöglicht, die christliche Sichtweise mit einer weltlichen, auf Existenzielles gerichteten Sicht und Weltinterpretation so zu konfrontieren, dass sich ungewohnte Denkanstöße ereigneten.
Antje Martina Mickan
Quellen der verlinkten Bilder:
Kreuzigungsgrupp von Peter Glas: Ostseezeitung vom 08.06.2016: https://www.ostsee-zeitung.de/Vorpommern/Fotostrecken-Vorpommern/Kirche-zeigt-Skulpturen-und-Bilder-zum-Thema-Traum-und-Trauma (Zugriff 30.06.2021).
"Aufbrechen" und "Abstürzen" von Harald Herzel: Ders.: https://www.harald-herzel.de/ (Zugriff 30.06.2021).
Für die Genehmigung zur Veröffentlichung der Ausstellungfotografie sei H. Herzel gedankt.