Junithema
Leidenswege: visualisiert, performiert, erinnert
Künstlerische Transformationen biblischer Texte 1: Zeichnungen zum Buch Hiob von Udo Rathke
Eine längere Fassung dieses Artikels erschien 2020 in: Thomas Klie und Jakob Kühn (Hg.): Das Jenseits der Darstellung, Postdramatische Performanzen in Kirche und Theater, Bielefeld, S. 85-105.
Zu den großen anthropologischen Grundthemen wie der Suche nach Glück, Seligkeit, Liebe gehört der Blick auf die Schattenseite menschlicher Existenz, auf Leidenserfahrungen und die Frage nach Wegen zur Überwindung von Leiden entschieden hinzu. Noch immer prägend dafür, wie das Phänomen Leid in christlicher Religionskultur wahrgenommen, gedeutet und wie damit konkret umgegangen wird, sind die literarische Verdichtung des Motivs des leidenden Menschen im Buch Hiob und die Erzählungen der Passionsgeschichte in den Evangelien.[1] Diese Schriften haben weit über den Kontext religiöser Frömmigkeitspraxis hinaus eine Wirkungsgeschichte entfaltet und ein bis heute in verschiedenen Sparten der Kunst wiederkehrendes Sujet begründet.[2] So geben Präsentationen künstlerischer Umsetzungen biblischer Leidenstexte auch in der Gegenwart einem nicht allein religiösen Publikum Impulse zur Auseinandersetzung. Ein Fallbeispiel im Monat Juni und ein weiters im Anschlusstext im Juli sollen das Material bereitstellen, um zu zeigen wie dabei Resonanzen zwischen divergenten Sichtweisen und Ausdrucksformen entstehen können.
Im Rahm dieser Beispielpraktiken kommt es gewissermaßen zu einer Begegnung von „Kunst und Kirche“. Dass in einem solchen Setting leicht Erwartungsgewohnheiten gestört und ein anderes Sehen möglich werden kann, entspricht im kunst- bzw. kulturwissenschaftlich informierten theologischen Diskurs gegenwärtig einem weitgehenden Konsens.[3] Was in diesem Beitrag über eine Veranschaulichung dieses Entdeckungspotentials hinaus geboten wird, ist der analytische Blick auf das Wie dieses Geschehens, also auf den Weg, um das erhoffte Erfahrungs- und Erkenntnispotential zu erfassen. Und es sollen bis zum zweiten Abschnitt dieser Untersuchungseinheit, die im Juli auf dieser Seite folgt, produktive Anschlüsse auch für religiöse Bildung und Seelsorge erkennbar werden.[4]
Neben dem Plädoyer für kreativ erweiterte Umgangsweisen mit der Leidensthematik in kulturell-kirchlicher Arbeit steht in diesem Aufsatz das Interesse, den Herausforderungen einer sich kulturell diversifizierenden Gesellschaft in Praktischer-Theologie durch Theoriekonzepte zu begegnen, welche die Wahrnehmung von Komplexität ebenso fördern wie sie zu einem operativen Umgang mit komplexen Geschehenszusammenhängen in einem hybriden Feld zwischen Kunst und Religion führen.[5] In diesem Beitrag wird mit einer raumtheoretisch begründeten sowie durch die Einbindung performativitätstheoretischer und kunstphilosophischer Konzepte erweiterten Untersuchungsperspektive gearbeitet.[6] Sie finden eine Skizze dieses Ansatzes in der Sparte Erinnerungskultur auf dieser Website und eine kurze Einführung ins hybride soziale Feld zwischen Kunst und Religion im folgenden Abschnitt.
Handlungsrahmen – Hybride Räume der Kunst und Religion
Insbesondere in Gebieten mit einem geringen Kirchenmitgliedschaftsanteil innerhalb der Bevölkerung (z.B. Mecklenburg-Vorpommern) zählt die alternative Nutzung von Kirchengebäuden als freie Orte der Kunst und Kultur inzwischen zum Üblichen. Hinsichtlich der dort situierten Praxis hat sich eine größere Deutungsoffenheit herausgebildet, die es ermöglicht, dass selbst Gottesdienste und Andachten unter bestimmten Voraussetzungen, wenn sie beispielsweise eine Ausstellung eröffnen oder ein Festival begleiten, als Kulturprogramm wahrnehmbar sind.[1] Andererseits wird hier vielfach einem öffentlichen Publikum – jenseits von Liturgie und Predigt – über künstlerische Produktionen die Auseinandersetzung mit anthropologischen Grundfragen eröffnet, teils unter expliziter Bezugnahme auf die biblische Texttradition. Ob letztere allerdings wie bei den im Weiteren vorgestellten Fällen von den Kunstschaffenden als „hochrangige, Jahrtausende alte Literatur“ (Udo Rathke), dem Gebiet der „Mythen und Märchen“ (Peter Glas, vgl. Juli-Thema) zugehörig oder als Zeugnis der eigenen Religion und Glaubenszugehörigkeit verstanden und verwendet wird, variiert in gegenwärtiger Praxis ebenso individuell wie die Rezeptionsweise der präsentierten Werke. Was für die Eine ein freies Reflexionsspiel mit Assoziationen „im allgemein humanistischen Sinn“[2] anstößt, mag für den Anderen zutiefst religiöse Empfindungen freisetzten und den Sinn von Glaubensinhalten widerspiegeln. Die symbolischen Formen und sozialen Felder Kunst und Religion kommen dann in einem aufs Ganze gesehen nicht exakt bestimmbaren Verhältnis gemeinsam zum Ausdruck, so dass in theoretischer Perspektive von einem kulturellen Hybrid sowohl mit Blick auf das künstlerische Werk zum Bibeltext, als auch mit Blick auf Werke der Kunst an sakralen Orten gesprochen werden kann.[3] In der Praxis ist eine solche Unterscheidung meinst nicht von Bedeutung und wird kaum erfragt. Für die reflektierte und professionelle Praxisgestaltung ist sie gleichwohl von Belang.
Für ein produktives Aufnehmen der Spannung innerhalb dieser sich so konstituierenden hybriden Interaktionsräume ist eine symmetrische Beziehung zwischen Akteurinnen und Akteuren der Kunst und der Religion wesentlich. Dies scheint heute noch immer nicht selbstverständlich.[4] Praktiken von Kunst und Religion treten mindestens seit dem 19. Jahrhundert immer wieder in Konkurrenz zueinander.[5] Doch ist auf gesellschaftlicher Ebene ein Lernprozess gegenwärtig im Fortschreiten begriffen, bei dem es darum geht, die Ansprüche einerseits auf ästhetische Freiheit des Ausdrucks, andererseits auf Rücksicht gegenüber religiösen Bedeutungen, Gefühlslagen und Erwartungen wechselseitig zu respektieren.[6] Kirchengebäude sind allerdings alles andere als White Cubes.[7] Was hier gezeigt wird, hat immer einen zeichenhaften Kontext, der kaum auszublenden ist, sondern mitspricht,[8] potentiell auch ganz konkret als verbale religiöse Kommunikation wie bei einer Predigt zur Vernissage. So entsteht für die subjektive Wahrnehmung eine Resonanz[9] zwischen Werk und Kontext oder auch zwischen Werk und einer dadurch inspirierten religiösen Praxis. Die Art und Weise dieser Resonanz ist ein gutes Stück weit von kulturellen Codierungen abhängig und so als Möglichkeit beschreibbar. Wird bei einer solchen Beschreibung sensibel mit Fragen der Deutungsmacht von Kunst bzw. Religion umgegangen, so ist dieses Vorgehen unbedingt zu unterscheiden von einer Vereinnahmung – beispielsweise eines Kunstwerkes durch eine für absolut genommene religiöse Deutungsvariante und der damit verbundenen Unterstellung einer dem Werk immanenten religiösen Dimension.
Transformationen und Interferenzen: Zeichnungen zum Buch Hiob von Udo Rathke
Eine Ausstellung in St. Petri zu Rostock

Vom 10. September bis 8. Oktober 2017 fand in der Rostocker St. Petri-Kirche eine Ausstellung mit Bildern von Udo Rathke, einem der renommiertesten bildenden Künstler Mecklenburg-Vorpommerns, statt.[1] Als Veranstaltungsträger kooperierten die Galerie „wolkenbank kunst + räume“[2] und die evangelische Innenstadtgemeinde Rostock[3] miteinander. Institutionelle Kunst und institutionelle Religion spannen also mit dieser Interaktion einen Rahmen auf, der Aussagen über kulturelle Konventionen der Deutung und Bedeutung zulässt. Galerie und Kirchengemeinde bringen außerdem Relationen zu unterschiedlichen sozialen Netzwerken in das sich aus Anlass der Veranstaltung konstituierende Beziehungsgefüge ein.[4]
Öffentliche Kommunikation als Impuls für mögliche Raumsynthesen
Aus einer Perspektive des öffentlich Wahrnehmbaren auffällig ist bei der Ausstellung Udo Rathkes in St. Petri eine Art Arbeitsteilung zwischen den ausrichtenden Institutionen. Während die Kirchengemeinde eher formal beteiligt scheint, indem sie das Nordschiff der St. Petri-Kirche zur Verfügung stellt, mit personellen Mitteln Unterstützung bei der Einrichtung und Durchführung leistet und auf die Ausstellung öffentlich hinweist, steuert die Galerie auch Inhaltliches bei. Sie lädt eine Lübecker Kunsthistorikerin als Rednerin zur Eröffnung ein und formuliert einen Informationstext, der auch aktuell noch auf der Galeriewebsite zu lesen ist:
„Hiob, diese alttestamentarische Figur, ist sprichwörtlich für einen Menschen als Spielball höherer Mächte und Sinnbild für das Ringen um seinen Glauben an eine Gerechtigkeit auch in unbegreiflicher Not. Diese Geschichte in der klaren und poetischen Luther-Übersetzung nahm Udo Rathke als Ausgangspunkt für seinen Zeichnungszyklus. ‚Es ist höher denn der Himmel; was willst du tun? Tiefer denn die Hölle; was kannst du wissen? Länger denn die Erde und breiter denn das Meer…‘ Wie dunkel kann eine Zeichnung sein, bevor sie sich im vollkommenen Schwarz verliert? Udo Rathke erkundet diese Frage ausgehend von skripturalen Bewegungen; aus dem Schreiben der Lutherzeilen heraus entwickeln sich die dichten, existenziell bedrohlichen Räume seiner Zeichnungen. Die Ausstellung leistet somit einen spannenden, eigenständigen Beitrag zum Reformationsjahr.“[5]
In einer – möglicherweise unter Mitarbeit der Innenstadtgemeinde – etwas erweiterten Fassung führen diese Worte auch auf einem Informationsposter in der Petrikirche in die Werkpräsentation ein. Während die Anmerkung zum Reformationsjubiläum hier allerdings fehlt, sind Aussagen zur Arbeitsweise Rathkes und zur zeichenhaften Bedeutung der Farben ergänzt.[6]
Die ersten Informationen zur Ausstellung werden ein größeres Publikum jedoch über die Ostseezeitung erreicht haben, und zwar erstmalig am 8. September 2017 innerhalb eines Interviewporträts Rathkes im Zusammenhang einer Sonderbeilage zu Künstlerinnen und Künstlern aus Mecklenburg-Vorpommern,[7] dann am 11. September 2017 noch konkreter und umfassender in einem Artikel zum Ausstellungsbeginn.[8] Dort ist u.a. zu erfahren, dass Rathkes eigentliches Sujet die Landschaft sei,[9] er durchaus auch Literarisches schon früher als Inspirationsquelle nutzte[10] und sich mit den im Herbst 2017 präsentierten „Zeichnungen zum Buch Hiob“ einen für ihn neuen Stoff vorgenommen habe: „An eine derart hochrangige, Jahrtausende alte Literatur habe ich mich anfangs gar nicht herangetraut. Aber das Thema hat mich nicht mehr losgelassen.“[11] Die Sache an sich hat demnach auch für Nicht-Theologen Faszinationskraft. Wie er im Interview außerdem mitteilt, wurde Rathke zwar als Kind getauft, würde sich aber dennoch nicht als religiösen Menschen bezeichnen.[12] In Rostock, wo der weitaus überwiegende Teil der Stadtbevölkerung sich als nicht-religiös versteht, man gleichzeitig aber mit Stolz von der Petri-, Nikolai-, und Marienkirche als Zeugnisse der Geschichte (und Anziehungspunkte für Touristen) spricht, eröffnet diese Positionierung höchstwahrscheinlich mehr Interesse, als sie enttäuscht. Sie ist von der Redakteurin auch gleich als einleitendes Zitat ihres Artikels zum Beginn der Ausstellung verwendet worden. Derselbe schließt dann wiederum mit einer ähnlich relativierenden Aussage zu Rathkes „Botschaft“. Diese sei „weniger im religiösen als im allgemein humanistischen Sinn zu verstehen: ‚Es geht darum, das Leben trotz aller Widrigkeiten durchzustehen und nicht aufzugeben, gerade in der heutigen Zeit‘“.[13] Die Taufe von Rathke (geb. 1955 in Grevesmühlen) gehört zu seiner Geschichte, dem damals (noch) Üblichen, wie auch die mit den alten Kirchen verbundene Religion zu dem gehört, was in früheren Zeiten von den Menschen als wahr ange–nommen werden konnte. So könnte eine unter der Leser–schaft der regionalen Presse weit konsensfähige Stellungnahme lauten und als Konzept dann auch die Deutung des Wahrgenommenen, mit Martina Löw gesprochen, die auf den Raum bezogene „Syntheseleistung“ beim Ausstellungsbesuch mit anleiten.[14] Der Künstler befasst sich seiner öffentlich kommunizierten Perspektive entsprechend mit antiker Kunst, mit Texten, die anthropologische Grundeinsichten in prosaischer und lyrischer Sprache zum Ausdruck bringen.
Materialer Raum
Als direkten Zugang zum alttestamentlichen Textraum hat Rathke eine „antiquierte[] Version der Luther-Übersetzung“[1] zur Hand genommen. Für das Ausstellungspublikum spielt das durchaus eine Rolle, denn es wird infolgedessen mit altertümlich anmutenden Formulierungen konfrontiert, welche auf den Zeichnungen selbst und im ausgelegten Begleitmaterial zu lesen sind. Die Bedeutung der Dimension Zeit, die Frage nach Spannungen zwischen dem aktuellen Jetzt und erinnerter Vergangenheit, ist zudem durch die Platzierung der Bilder auf den Wänden mit teils abblätternder Farbe hervorgehoben, also allein schon durch diese beiden Umstände – alte Sprachform auf alter Wand – die Relevanz von Zeit als ein wesentlicher Raumaspekt aktiviert.[2] So war es der „morbide Charme“[3] des nördlichen, fast nur mit einem Altar möblierten Kirchenschiffs von St. Petri, der Udo Rathke dazu bewegte, diesen Ort für seinen Zeichenzyklus zu wählen. Für ihn sei hier „Energie“[4] geradezu spürbar. Zudem habe ihn an der Figur des Hiob besonders die Kraft beeindruckt, die dieser angesichts seines Leidens entwickle.[5]
Transformationen und Resonanzen
Zuerst beim Lesen, dann beim Schreiben tritt Rathke in leibliche Auseinandersetzung mit dem Bibeltext. Er begibt sich in die identifizierende Sicht des leidenden Hiobs hinein, beginnt seine Zeichnung aus dem Schreiben von Aussprüchen und transformiert aus der Einfühlung heraus das Wahrgenommene in seine Sprache der Farben und bildhaften Formen.[6] Unabhängig von der biblischen Sprecherfigur der je zitierten Fragen, Klagen, Belehrungen oder weisheitlichen Antworten ist es stets die subjektive Perspektive, die Resonanz des leidensfähigen Menschen auf diese Worte und Umstände, welche die Arbeit anleitet und den Bildinhalt ausmachen. Dieser Übertragungsprozess gleicht einem Aufbrechen der harten, linearen Textstruktur in einen zweidimensionalen und dennoch fluid erscheinenden Bildraum hinein. Die hinter Glas gerahmten Zeichnungen sind schließlich auf den Hintergrund der Kirchenwände appliziert, sie tragen Nummern und können nun vom Publikum linear abgeschritten, quasi wie ein Bilderbuch gelesen und doch mehr oder weniger bewusst mit dem mitgesehenen Kontext in Verbindung gebracht werden. Dabei werden in schillernder Weise die Sinne der Betrachtenden angesprochen, emotionale Reaktionen und Erinnerungen provoziert, so dass im subjektiven Erleben neue Relationen zu anderen physischen und psychischen Räumen entstehen.
In einer Kette von Überlagerungsprozessen (der alte Text/die aktuelle Einfühlung des Künstlers – die alte Wand/das aktuelle Bild – das alte Thema/die aktuelle Empfindung und Erinnerung der Rezipierenden) werden Verbindungen über die Zeiten hinweg geknüpft. So performiert diese Ausstellung unter Mitarbeit der Rezipierenden das Thema Menschheit und Menschsein auf einer zeitlosen bzw. transtemporalen Ebene mit der Erfahrung von Leid als einem wesentlichen Charakteristikum und Bindeglied.
Farbraum und Erinnerung
Rathkes Zeichnungen wirken dynamisch, wo sich schwarze oder dunkelblaue Linien verdichten auch finster. Die Bedeutung eines „schreienden Rots“ beispielsweise lässt sich im Zusammenspiel mit der Textstelle, „Rufe doch, was gilt’s ob jemand antwortet“ (Hi 5,1), in ganz neuer Weise erfahren und in erschütternder Deutlichkeit mit seinem zerschundenen Körper entblößt – aber aufrecht – erscheint der dem Leid ausgelieferte Gerechte im Werk zu Hi 2,6.10,18: „Siehe da, er sei in deiner Hand. – Warum hast du mich aus Mutterleib kommen lassen? Ach, daß ich wäre umkommen, und mich nie ein Aug gesehen hätte!“ (Vgl. Abb. 2.) Auseinanderstobende schwarze Knäuel mit wirren, losen Fäden teils noch verbunden sind entstanden zu: „So es aber an dich kommt, wirst du weich, und nun es dich trifft, erschrickst du“ (Hi 4,5). Die verbildlichten subjektiven Assoziationen des Künstlers aktivieren wiederum subjektive Assoziationen beim Publikum. Dabei erscheint diese Kunst frei auch dahingehend, dass sie religiöse, eventuell theologisch gebildete Subjekte nicht in eine rein humanistische Perspektive zwingt, sondern – unabhängig von einer Frage nach der Intension des Künstlers – auch das Einbeziehen von Glaubensvorstellungen und theologischen Konzepten ins Deutungsspiel ermöglicht. Die intensiven Farben Rot, Schwarz, Blau, Weiß verbunden mit dem bedrängenden Thema sprechen bei der Rezeption der Leidensbilder in starker Weise ein körperliches Empfinden und das vorsprachliche Körpergedächtnis an.[1] Über die Bild-Texte kommen dann auch Impulse zu Kognitivem hinzu. Es ist kaum möglich mit allen Werken beim Ausstellungsbesuch gleichermaßen in Resonanz zu treten. Während der Künstler eine unbestimmte Zeit zur Erstellung seiner Zeichnungen zur Verfügung hatte, präsentiert sich dem Publikum der Zyklus hier in einem Ensemble – beim Abschreiten der Bilder vielleicht für eine knappe halbe Stunde – mit seiner ganzen Wucht. Und anders als das Hiobbuch in seiner letzten Fassung bietet die Ausstellung einzelne Sequenzen zur Auseinandersetzung, ohne aber auf ein konkretes Ziel, ein gutes Ende der Geschichte hinzusteuern. Wer diese Ausstellung besucht und wem sich Sinnfragen in Bezug auf die menschliche Existenz, auf Schuld, Schuldlosigkeit oder Gerechtigkeit stellen, ist zunächst allein gefordert, diese zu lösen. Aber, die Macht, der sich Hiob gegenübersieht, heißt Gott, der Ort der Werkpräsentation ist eine Kirche. Damit sind Fragen und thematische Fokussierungen für mögliche Anknüpfungen in der Gemeindearbeit vorbereitet. Dabei bietet sich nicht allein der Einbezug einer exegetischen Sicht auf den bearbeiteten Stoff an. Für Ausstellungsgäste, die sich gemeinsam mit anderen mit biografischen Themen befassen wollen, beispielsweise in einem kirchlichen Arbeitskreis, in psychodramatisch arbeitenden Gruppen oder auch im Rahmen des Vikariats, präsentiert sich mit dieser Veranstaltung starkes impulsgebendes Material. Dies sollte aufgrund der nicht vorhersehbaren Kopplung des Zu-Sehenden mit eventuell traumatischen Eindrücken der Rezipierenden natürlich keinesfalls unbedacht zum Einsatz kommen.
Antje Martina Mickan
Eine Fortsetzung des Beitrags mit zwei weiteren Fallstudien und einem Resümee lesen Sie auf dieser Seite im Juli 2021.
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www.theomag.de/09/pg1.htm
www.udo-rathke.de
www.wolkenbank-galerie.de/