1. Themenfeld 2024: Materialität und Sinn
Auch innerhalb evangelischer Praktischer Theologie ist in den letzten Jahren mehr und mehr die Bedeutung von Materialität, also vor allem von Dingen und ihren Eigenschaften für das Erleben christlicher Religion entdeckt worden.
Damit rücken nun auch ziemlich übliche Artefakte christlicher Bräuche neu in den Blick. Zur Thematik als wissenschaftliche Lektüre empfohlen sei: Keller, Sonja/Roggenkamp, Antje (Hg.): Die materielle Kultur der Religion. Interdisziplinäre Perspektiven auf Objekte religiöser Bildung und Praxis, Bielefeld 2023.
Der erste Artikel auf dieser umgestalteten Seite wird sich in drei Folgen mit Grabsteinen befassen und von dort aus exemplarisch Persönlichkeiten und Lebenssituationen, über die sie etwas erzählen, vorstellen.
Er erschien erstmalig in der nachfolgend genannten Festschrift zum 65. Geburtstag des Rostocker Professors für Praktische Thomas Klie und wird sich nun zunächst mit einem seiner Vorgänger befassen, der aufgrund seiner theologischen Überzeugung auswandern musste und so nach Riddagshausen bei Braunschweig gelangte.
Erstveröffentlichung: Antje Mickan (2022): Stein und Raum. Ein funerales Kommunikations- und Erinnerungsmedium im Gebrauch. In: Kumlehn, Martina; Kunz, Ralph; Schlag, Thomas (Hg.): Dinge zum Sprechen bringen. Performanz der Materialität. Festschrift für Thomas Klie, Berlin/Boston, S. 193-211.
Stein und Raum
A) Joachim Lütkemann und sein barockes Grabmal
1. Intro
Bis vor kurzem hatte ich ihn nur mal im Vorübergehen betrachtet und mir gar nicht vorstellen können, wie sich die Beziehung noch gestalten würde. Nun rede ich ihn im Geiste schon mit „Joachim“ und „du“ an. Alles begann damit, dass ein in der Familie weitergegebenes Buch mit erbaulichen Schriften bei mir zu Hause ankam.[1] Ich schlug es auf und erblickte auf der zweiten Seite, am unteren Rand einer aufwendigen Kupferstich-Illustration von Johann Georg Bäck[2] das Porträt eines mir bekannt vorkommenden Herrn mit modischem Erscheinungsbild wie aus einem Mantel-und-Degen-Film: Joachim Lütkemann (1608-1655), Generalsuperintendent zu Wolfenbüttel und, wie sich leicht in Erfahrung bringen ließ, nicht nur ehemals Theologie-Professor der Rostocker Universität, sondern später auch Abt des Klosters Riddagshausen.[3]
Hier in der Klosterkirche am östlichen Rand Braunschweigs, an der ich auf alltäglichen Spaziergängen vorbeikomme, musste sich eine erste Begegnung ereignet haben. Meine Neugierde war geweckt und die Suche nach anfänglicher Enttäuschung schließlich doch erfolgreich. Eine zuverlässige Informandin versicherte,[4] dass Lütkemann in der zweiten Kapelle von rechts des östlichen Chorumgangs begraben sei. Seine Grabplatte war allerdings zwischenzeitlich mit Teilen eines Bühnenpodestes zugestellt, die Ausgrabung aber möglich. Etwas schwarz im Gesicht – fast wie schwarz vor Ärger ob der erfahrenen Behandlung – zeigte sich Joachim Lütkemann lebensgroß, plastisch aus dem Stein hervorgehoben in seiner amtlichen Kleidung und Haltung: ein beglückender Moment. Dieser Moment zog weitere Nachforschungen zur Person, Lektüren von Lütkemanns erbaulichen Schriften[5] und – seit die Kapellen des Chorumgangs nicht mehr als Abstellräume genutzt werden – etliche Besuche „bei ihm“ in Riddagshausen nach sich. Zu einer weitergehenden Entzifferung der verwitterten Grabplatten-Schriftgravur habe ich mich noch nicht bemühen können,[6] denn wenn ich dort bin, hänge ich am steinernen Bild, schaue mir die verwitterte Nase an, seine hier ernsten Züge, die Hände mit ihrer Haltung, die Schleifen-Schuhe mit Absätzen. Ist gerade keiner da, beginne ich ein Gespräch über den schönen Garten, zu dem Joachims Fenster gerichtet ist, über seine Ehefrau, wo die wohl begraben liegen mag,[7] über die Rostocker Fakultät und den Wolfenbütteler Herzog August den Jüngeren, der ihn dankenswerterweise hierher berief, wenig bevor man ihm in Mecklenburg wegen theologischer Lehraussagen einen Landesverweis erteilte:[8] Joachim Lütkemann vertrat die Ansicht, dass Christus während seiner drei Tage im Grab kein wahrer Mensch war, denn im Tode trennten sich Leib und Seele, so dass ein Leichnam kein Mensch sei. Dies gelte auch für den wahrhaft toten Christus zwischen Kreuzigung und Auferstehung.[9] Was hätte dieser Professor und Abt zu Lebzeiten nur davon gehalten, dass über dreieinhalb Jahrhunderte nach seinem Tod einmal jemand zu seinem Bildnis redete, als wäre er da? Also lassen wir das Spiel[10] und untersuchen theoretisch, wie es dazu kommen konnte und ob sich daraus etwas über Funktionsweisen und Sinn von Grabsteinen erschließen lässt. Zwar ist unter den Grabsteinen die Platte mit lebensgroßem Halb-Relief einer verstorbenen Person eindeutig eine besondere, heute unübliche Ausführung, die auch in früheren Zeiten nur für Wenige infrage kam.[11] Doch gerade an einem derart reichhaltig ausgestatteten Exemplar mit der Untersuchung zu beginnen, verspricht die Generierung zahlreicher Hypothesen, die auf Eigenschaften und Gebrauchsmöglichkeiten von Grabsteinen im Allgemeinen hinweisen könnten.[12]
2. Auswertung eines Selbstversuchs
Bei der Nutzung der obigen Eingangsszene – sie hat sich abgesehen von einer gewissen Überzeichnung realiter ereignet – als empirisches Material qualitativer Forschung stellt sich als erstes die Frage, wie der ausschlaggebende Impuls beschrieben werden kann, der zur kommunikativen Praktik mit Bezug zum sepulkralen Artefakt führte. Erst im zweiten Schritt wird dann die Grabplatte mit ihrer Situierung detaillierter in den Blick kommen und sich Fragen danach anschließen, welche Gebrauchs- und Kommunikationsangebote aus einer möglichst objektiven Perspektive[13] von diesem Artefakt ausgehen, sowie danach, welche Gebrauchsbedingungen und Sinngebungen durch den Grabort vorstrukturiert werden.
2.1 Raumkonstitution als aktivierender Impuls einer Praktikentwicklung
Das handelnde Subjekt des hier untersuchten Fallbeispiels reagiert nicht auf eine interaktiv erfahrene Anleitung oder Anfrage, sondern aufgrund eines Wiedererkennens und Neuerkennens, das sich bei der erinnernden Relationierung von zwei Abbildern ein und derselben historischen Person ereignete. Es ist daher angemessen von einer Akteurin und ihrer Entwicklung einer schließlich auf das materiale Ding „Grabplatte“ bezogenen Praktik zu sprechen. Anzunehmen ist, dass sie dabei auch auf erlernte Fertigkeiten und Konzepte zurückgreift.[14]
Bei früheren Besuchen in der Klosterkirche Riddagshausen hatte die Akteurin die Grabplatte Lütkemanns zwar wahrgenommen, dieser jedoch weder eine ortsunabhängige Bedeutung beigemessen, noch ein über den Moment der Betrachtung hinausreichendes Interesse an der Person des Abtes gefunden. Das Porträt Lütkemanns im alten Folianten dagegen stand vom ersten Erblicken an in Zusammenhang mit Narrationsfäden, an die die Akteurin anschließen konnte: Das Buch mit dem Porträt und erbaulichen Schriften war ein persönlich weitergegebenes Familienerbstück mit authentischen Worten des Porträtierten. Der historische Mensch Lütkemann wurde schon bei der Buchweitergabe vorgestellt als jemand mit Bezug zu Orten, die der Akteurin vertraut sind. Und es wurde bei ihr eine Erinnerung aktiviert, die besagte, dass sie wohl schon mehr als einmal an der originalen, sich in der erweiterten Nachbarschaft befindenden Grabstelle des Abtes gestanden hatte. Als dann auch noch eine eigene Nachforschung und „Ausgrabung“ erfolgreich war, verstärkte dies wahrscheinlich die Manifestation der Beziehung zur Grabplatte mit ihrem Signifikat „Lütkemann“ noch. Unter Anwendung einer raumtheoretischen Perspektive, die Raum relational als Manifestationsaspekt von Beziehungen versteht,[15] der sich im Wechsel zwischen Positionierungen von etwas zu etwas anderem (Spacing) und dem wahrnehmenden Deuten dieses Zueinander als etwas (Syntheseleistung) konstituiert,[16] zeigt sich die Raumsynthese der Akteurin als ausschlaggebend für ihr Praktizieren. Mit dem Buch und Porträt, der Grabstelle, deren Umgebung und dem Spazierweg dorthin als wesentlichen Elementen synthetisiert sie einen Raum, der insgesamt für einen spezifischen Erzählzusammenhang steht und in dem sie agieren kann. Speziell seit der erfolgreichen Grabpatten-Wiederentdeckung ist dieser Raum mit positiven Emotionen verbunden, welche die Erinnerungen färben. Durch die vorgenommene Verknüpfung bilden die Raumeinrichtungselemente in der Wahrnehmung der Akteurin Erinnerungsmedien füreinander. Das Sehen des Buches mit Lütkemanns „Aufmunterungen“ zu Hause auf dem Tisch löst also ein mentales Bild der Grabstelle aus, die über einen schönen Spazierweg leicht zu erreichen ist. Die wiederum hat durch ihre originale Relation zu Lütkemann in diesem Raum eine herausragende Bedeutung und soll nun näher vorgestellt werden.
2.2 Die Grabplatte von Joachim Lütkemann in der Klosterkirche Riddagshausen
Die Steinplatte mit dem lebensgroßen Abbild von Lütkemann befindet sich noch immer über der Stelle, wo der Abt 1655 bestattet wurde,[17] mittig in einer Kapelle an der Ostseite der Klosterkirche mit dem Haupt nach Osten ausgerichtet.[18] Wie der letzte Satz der lateinischen Inschrift mitteilt, ließ Lütkemanns Witwe Dorothea Lewezowen das Grabmal errichten.[19] Es ist aus hellem Kalkstein gefertigt, hat eine Länge von 2,40 m und Breite von 1,18 m. Seine Sockelhöhe von 9 cm zusammen mit der plastischen Gestalt des Abbilds halten Besucherinnen und Besucher von selbst vor dem Betreten zurück.[20] Die Gesichtszüge, Haar und Barttracht des Abtes sind so ausdrucksstark herausgearbeitet, dass sie sich leicht einprägen und ein Wiedererkennen auf einem Porträt ermöglichen. Kragen, geknöpftes Untergewand und Talar sind detailliert ausgeführt, bis hin zur Wiedergabe von Stickereimustern. Ähnliches gilt für die Schuhe. Eher schwach zu erkennen ist das Scheitelkäppchen. Die dargestellte Handhaltung gleicht derjenigen auf dem Kupferstich-Porträt von Bäck (Abb.1): Die Hände liegen leicht nach innen gewölbt aneinander, wobei der Zeigefinger der rechten Hand ausgestreckt auf der linken Hand zwischen dortigem Daumen und Zeigefinger ruht und der rechte Daumen leicht nach oben gerichtet ist. Dies wirkt wie eine Geste der Kontemplation oder auch des Haltens einer Schreibfeder. Der obere Korpus wird derart von einer Rundbogennische gerahmt, dass Lütkemann vor einem Torbogen zu stehen scheint, als sei er gerade ins himmlische Jerusalem eingetreten. Oberhalb dieses Bogens zieren zwei Wappen[21] die Grabplatte, wie es auch auf den sich rechts und links von Lütkemanns Grab in derselben Kapelle befindenden, ebenerdigen Grabplatten der Fall ist. – Die rechte trägt eine großflächige Inschrift mit dem Zitat von Hiob 19,25-27,[22] die linke in ähnlicher Gestaltung die Verse Röm 14,7-9. – Zumal die zwischen 1216 und 1275 angelegte Zisterzienserkirche St. Mariae[23] trotz ihrer auch touristischen Bedeutung nicht als Museum fungiert,[24] sondern im Wesentlichen für den Gottesdienst und Kirchenmusik in Gebrauch ist,[25] sind keine Informationsschilder an den Gräbern angebracht, was sie als Ausstellungsstücke etikettiert hätte.
Außerhalb von Veranstaltungen steht die Kirche täglich von 10–16 Uhr für Besichtigungen und private Andacht offen. Sie ist von einem Park und Garten mit Obst- und Gemüseanbau umgeben, der im Osten von der alten Klostermauer begrenzt ist und zum Verweilen einlädt. Die Artefakte, die an diesem Ort begegnen, zeugen von verschiedenen Jahrhunderten und sind zugleich Teil einer aktiv gestalteten (Religions)Kultur der Gegenwart, deren Horizont durch sie gleichsam eine material-greifbare Erweiterung in Richtung Vergangenheit erfährt.[26] Bei einem Rundgang durch die Kirche zeigt sich so auch Lütkemanns Grabmal als Verkörperung der über Jahrhunderte fortgesetzten Bedeutung des Ortes und der hier situierten religionskulturellen Praxis. Seine Gestalt ist im Hier und Jetzt zu erfahren.[27] Sie vermittelt den Eindruck eines gelehrten protestantischen Geistlichen mit Macht über das Geschehen in der zum Ort gehörenden Gemeinschaft,[28] hebt sich in ihrer Randlage dezent aus dem Ensemble der inneren Kirchenarchitektur hervor und steht dabei zur dieser doch in gewisser Spannung. Denn die Form des Gemäuers folgt Leitgedanken der Zisterzienser sowie einem Bedarf mönchischer Praktiken,[29] die durch das aus dem Boden hervorgehobene Artefakt gestört wäre.[30] Der reformatorische Traditionsbruch und die Machtübernahme evangelischer Theologie spiegeln sich also auch an diesem Kirchengrab wider.[31] Andererseits werden die Kapellen im östlichen Chorumgang heute durch den 1735 gestifteten Hochaltar[32] vom Kirchenhauptschiff großflächig abgeschirmt, so dass auch die Grabplatte Lütkemanns in einen Schattenbereich geraten ist, dessen vorübergehende Nutzung als Abstellraum immerhin Plausibilität besitzt. Dagegen war der aus Elmkalkstein gefertigte Taufstein im westlichen Hauptschiff der Kirche mit seinem reich verzierten Gitter und Baldachin aus Lindenholz ebenso wie die kunstvolle Kanzel, deren Fuß die Figur des Mose mit Gesetzestafeln bildet und dessen Schalldeckel der auferstandene Christus krönt, schon zu Lütkemanns Lebzeiten Teil der Kircheneinrichtung.[33] Er wird diese Artefakte also mit großer Sicherheit in Gebrauch genommen haben. Beispielsweise im Zusammenhang mit einer Kirchenführung bzw. kirchenpädagogischen Arbeit könnte auch auf diesen Umstand hingewiesen und so den Raumsynthesen der Besucherinnen und Besucher weitere Möglichkeiten hinzugefügt werden.
Fragt man sich, welche Wirklichkeit durch die Grabplastik an diesem Ort zur Aufführung kommt, so tritt zuerst der Abt selbst auf die imaginierte Bühne, tut dies allerdings in Liegeposition. Es scheint, dass er sich in der Kapelle zur Ruhe begeben hat und nun – zusammen mit den in seiner Nähe bestatteten Kollegen – mit etwas Abstand Anteil am Geschehen an seiner ehemaligen Wirkungsstätte nimmt. Doch, gerade wenn die Morgensonne durch das Kapellenfenster auf das steinerne Haupt fällt, spannt sich zeichenhaft eine Relation zwischen himmlischem und irdischem Sein auf und aktiviert bei der Betrachtung Überlegungen zur transzendenten Existenz des Abgebildeten bei Gott. Die Grabplatte erscheint dann mehr als ein Erinnerungsmedium, das durch seine Inschrift eindeutig auf eine verstorbene Person verweist. Die aber ist für die Betrachterin eben stärker bildlich und mit Gesichtszügen präsent, erscheint also als ein „Ich“, das die korrespondierende Anrede mit „du“ provoziert.[34] Das Artefakt überliefert uns heutigen Menschen eine Mitteilung, auch wenn keine besonderen religionskulturellen Codes etwa über Kleidung, Wappen oder Bedeutung der Inschrift bekannt sind, wenigstens der schlichten Art wie: „Ich war da, wo du jetzt bist. Bedenke deine Sterblichkeit.“ Im Grabzeichen kommen Vergangenheit und Präsenz zusammen zum Ausdruck. Die Altersspuren am Artefakt können eine reflexive Distanz bei der Wahrnehmung verstärken. Neben dadurch hervorgerufenen Fragen zum Umgang mit diesem historischen Zeugnis – zum Beispiel danach, ob Anfassen erlaubt ist – geben sie Anlass zu einem vergleichenden Nachdenken über die Welt des Ichs „Joachim Lütkemann“ in einer durch den Dreißigjährigen Krieg geprägten Zeit und der gegenwärtigen Wirklichkeit. Außerdem zeigt sich die Bedeutung der Grabplatte als ein Bindeglied zwischen den Zeiten und Welten, das in christlicher, durch den Ort repräsentierter Deutung auf die Gemeinschaft von Lebenden und Toten hinweist.
Was bei der Betrachtung der Grabplatte im Einzelfall tatsächlich anspricht, ist wie jede Raumsynthese und jedes Aufführungserlebnis von den subjektiven Erinnerungen, Sichtweisen und Prägungen abhängig.[35] Wer etwa eine Aversion gegen Amtsträger besitzt wird sich beim Erblicken des steinernen Talars vielleicht gleich wieder abwenden und das Bildnis so nicht zur Sprache kommen lassen. Ganz anders könnte das mit einer Vielzahl von Knöpfen dargestellte Untergewand bei an Pastoralmode Interessierten eine faszinierende Wirkung hervorrufen.[36] Die Akteurin des obigen Fallbeispiels bringt nun bereits ein Ensemble an Gedanken, Erinnerungen und Fragen mit Anschluss zu einer Bedeutungseinheit „Joachim Lütkemann“ mit zum Grabmal. Hier zeigt sich die von Thorsten Benkel herausgearbeitete Funktion des Grabes als zweitem Körper der Verstorbenen in ganz eigener Darstellung.[37] Die Grabplatte mit Lütkemanns plastischer Gestalt wird von der Akteurin als ein solcher zweiter Körper angesprochen und in Gebrauch genommen. Die Situierung in der Klosterkirche ermöglicht einen freien Zugang wie auch Momente der Ungestörtheit. So kann sich in spielerischer Weise und Wirklichkeit für die Grabbesucherin ein Gespräch entfalten, in dem sie dem Objekt etwas erzählt oder Fragen stellt. Entdeckt sie beim gleichzeitigen Betrachten des alten Bildnisses Einzelheiten neu, könnte dies als Resonanz des Gegenübers gedeutet werden. Die Akteurin mag sich dabei vergegenwärtigen, dass sie Themen und Orte mit jemandem teilt, der genau hier vor Jahrhunderten lebte, und sich dabei in einem sozialen Kontinuum verortet sehen. Hier in der Klosterkirchenkapelle mit dem Fenster zum schönen Garten vermittelt diese spielerische Praktik eine andere Form von Gegenwärtigkeit, von ernster Wirklichkeit als es beim Gebrauch einer alten Ausgabe mit Schriften Lütkemanns oder mit einem Porträt für ähnliche Kommunikation möglich wäre. Die fokussierte Akteurin befindet sich jenseits von Trauer. Sie betreibt aber, wie es für Trauernde von Bedeutung ist, eine identitätsbezogene Praktik. Sie entdeckt Gemeinsamkeiten und Anschlussmöglichkeiten zu vergangenen Existenzen, kann sich vorübergehend mit diesen identifizieren und kann sich beim prospektiven Ausblick versichern, dass es nach ihr genau hier noch Menschen geben wird, die dem eigenen Leben nicht völlig fremd sein werden.
Antje Martina Mickan
Fortsetzung im Mai
Im nächsten Teil steht mit Johann Wilhelm Mannhardt (1760-1831) ein Theologe, der im 19. Jahrundert durch sein soziales Engagement hervortrat und einen Geschlechterfriedhof gründete, im Mittelpunkt.