Berichte aus Kultur und gesellschaftlichem Engagement
Auf dieser Unterseite wird ab April in eher loser Ordnung über verschiedene kulturelle Ereignisse, Veranstaltungen, Akteurinnen und Engagements berichtet werden.
Am Anfang soll ein heute noch in der Zukunft liegender Rückblick auf die Begegnung der norddeutschen Nagelkreuzzentren auf Hiddensee vom 5. bis 7. April stehen. Ich werde für die Gruppe der Braunschweiger Domgemeinde mit dabei sein.
Nagelkreuznetzwerk
Aktivitäten der Gruppe Nord
Nagelkreuzbegegnung auf Hiddensee vom 5.-7. April 2024
Erinnerungsprotokoll von Antje M. Mickan
Das Begegnungstreffen der Nagelkreuz-Gruppe Nord anlässlich der 25-jährigen Mitgliedschaft der evangelischen Kirchengemeinde Kloster auf Hiddensee in diesem Netzwerk stand unter dem Motto-Thema: „Sehnsucht nach Frieden und Wege dahin. Welche Rolle kann die Nagelkreuz-Gemeinschaft auf der Suche nach einem gelingenden gesellschaftlichen Diskurs zur Versöhnung und Frieden leisten?“
Neben gemeinsamem Essen, Austausch in Gesprächsgruppen und einem Reisebericht von Arne Bölt als den Teilnehmenden vorbehaltene Aktivitäten (s.u.), wurde zu allen am Ort der Inselkirche stattfindenden Programmpunkten öffentlich eingeladen:
Dazu gehörten am Freitagabend: die Eröffnung mit Friedensgebet und ein Vortrag von Rüdiger Freiherr von Fritsch zum Thema „Hintergründe des Angriffskrieges Russlands gegen die Ukraine und mögliche Wege daraus“ mit anschließender Diskussion. Von Fritsch war unter anderem von 2014 bis 2019 deutscher Botschafter in Moskau. Er referierte zentrale Aspekt aus seiner 2023 erschienenen Publikation „Welt im Umbruch – was kommt nach dem Krieg?“
Zentrale Inhalte (entsprechend meiner Erinnerung):
- Zum Kerngedanken der Nagelkreuzgemeinschaft:
- Als unter den Anwesenden weitgehend konsensfähig schien mir der auch von von Fritsch vertretene Kerngedanke der Nagelkreuzgemeinschaft, dass handelnde Menschen sich schuldig machen und wir – zur Wahl herausgefordert – uns trotzdem zum Handeln mit einer Suche nach Versöhnung entscheiden können. Wenn wir Waffen an die Ukraine liefern, werden diese zum Töten von Menschen verwendet. Doch machen wir uns nicht in einem noch größeren Maß schuldig, wenn wir die Ukraine nicht bei ihrer Wehr unterstützen? Tun wir das, ist die Frage danach, wie es nach Kriegsende in Europa mit allen konstruktiv und dialogisch in Beziehung stehend weitergehen kann, nicht aus dem Blick zu verlieren. Gleiches gilt dafür, nicht einzelne Menschen zu verurteilen, sondern einen Angriffskrieg.
- Leitthese des Referenten:
- Eine Leitthese des Referenten betrifft den Ansatz, dass man mit den Augen Putins auf die Auseinandersetzung blicken müsse, um dessen nächste Entscheidungen antizipieren und weiterführende Strategien des eigenen, langfristig nach Frieden und Versöhnung strebenden Handelns erkennen zu können.
- Überlegung zur historischen Enstehung von politischen Ansprüchen und Strategien:
- Aspekte der historischen Entwicklung in Russland bis zur aktuellen Position Putins werden vorgestellt. Dazu gehört nach von Fritsch bezeichnenderweise der Ausspruch von Katharina der Großen, dass man die Grenzen des Russischen Reiches nur stabilisieren könne, wenn man sie permanent erweitere.
- Die Auflösung der UdSSR als Schande?
- Heftig diskutiert wurde die Einschätzung von Fritschs, dass in Russland (und insbesondere von dessen politischer Führung) die Auflösung der Sowjetunion und damit einhergehende Verkleinerung des Staates als eine große Schande gesehen werde, die Putin nun rückgängig zu machen suche. In der sich an den Vortrag anschließenden Diskussion ging es besonders um davon abweichende Sichtweisen innerhalb der Bevölkerung, denen auf eigenen Reisen durch dieses Land begegnet wurde.
- Hoffnung!
- Hoffnung hob von Fritsch abschließend (meiner Erinnerung entsprechend) als eine ebenso mögliche wie sinnvolle und einzig angemessene Perspektive hervor. Sie bedeute jedoch nicht, dass zum gegenwärtigen Zeitpunkt und in der gegenwärtigen Konfliktsituation eine Kapitulation der Ukraine einen Frieden in Europa bringender Schritt sein könne.
Öffentlich waren am Samstagvormittag die Morgenandacht sowie ein Impulsreferat des Vorsitzenden der Nagelkreuzgemeinschaft Deutschland e.V. Oliver Schuegraf zur Frage „Welche Rolle kann die Nagelkreuzgemeinschaft auf der Suche nach einem gelingenden gesellschaftlichen Diskurs zur Versöhnung und Frieden leisten?“ (ebenfalls mit eher kürzerer Diskussion).
- Unter anderem hob Schuegraf die Bedeutung von Erinnerungskultur für die Friedensimpulse hervor. Es sei die Erschaffung von Orten nötig, an denen die Konstruktion von Begegnungs- und Versöhnungsräumen gelingen und Friedenspraktiken erfahrbar werden können.
- Eine besondere Herausforderung ergibt sich in den kommenden Jahren durch den Generationenwechsel, wenn keine Personen mehr authentische Erlebnisse in Deutschland an die Kriegs- und frühe Nachkriegszeit des 20. Jahrhunderts tradieren können, also die Spanne des kommunikativen Gedächtnisses zu diesem Erinnerungsort endet.
- Weitere von Schuegraf als Thesen und Fragen zusammengefasste Impulse wurden am späteren Vormittag in vier Gruppen der Nagelkreuzbegegnung diskutiert und weitergedacht.
Interner Teil:
- Bis zum Mittagessen fand der interne Austausch mit gewisser Fokussierung auf die Fragestellung des Impulsvortrags von Schuegraf statt. Doch gingen die Gespräche darüber hinaus. Es kamen besondere Gegebenheiten und Herausforderungen an den je heimatlichen Orten der norddeutschen Nagelkreuzzentren zur Sprache. Als deutlich anregend empfand ich dabei den Umstand, dass aus ganz unterschiedlichen beruflichen Erfahrungsperspektiven (z. B. als Psychotherapeutin, Offizier, Ernährungswissenschaftler, Theologin, Chemiker oder Ingenieur) auf den Diskussionsgegenstand geblickt wurde.
- Am früheren Nachmittag wurden durch vorher festgelegte Personen aus den Gesprächsgruppen die Ergebnisse zusammengetragen.
- Arne Bölt (Diakon der Innenstadtgemeinde Rostock und ab August 2024 Ansprechpartner für die Region Nord der deutschen Nagelkreuzzentren), der sich aktuell im Sabbatical befindet und im März diesen Jahres von einer Reise zu deutschen Nagelkreuzzentren in der Ukraine und Russland zurückgekehrt war, gab einen lebendig vorgetragenen, ermutigenden Einblick zu seinen Erlebnissen in diesen europäischen Kriegsländern. Die Beziehungen zu Akteuren in der Ukraine und Russland begannen für Bölt schon zur Zeit seines Studiums in Moritzburg und der Dresdner ev. Fachhochschule. Von Mai bis Juli 2024 wird er sich erneut in der Ukraine (Odessa) aufhalten. Seine Erfahrungen vom Unterwegs-Sein in diesen beiden Ländern zeigten aus meiner Sicht gerade auch Möglichkeit des Dialogs und der Beziehung in Zeiten der Konfrontation über Grenzen hinweg auf.
Um 17 Uhr begann am Samstag – nun wieder öffentlich – eine von Arne Lietz (Wittenberg) moderierte Podiumsdiskussion,
- und zwar mit Stefan Seidel (Autor und Redakteur des ev. Wochenblatts “Der Sonntag”), Martin Kobler (ehem. Diplomat, u.a. 2017-2019 Botschafter in Pakistan und 2015-2017 UN-Sonderbeauftragter in Libyen) und Joachim von Braun (u.a. em. Professor, Agrarpolitiker, Ernährungsforscher und amtierender Präsident der Päpstlichen Akademie der Wissenschaften) als geladenen Referenten, wobei letzterer als Inselbewohner und angemeldeter Tagungsgast zuvor auch aktiv an den Gruppengesprächen teilgenommen hatte.
- Die Diskussion begann mit Kurzreferaten der Eingeladenen zum Motto-Thema der Nagelkreuzbegegnung (Sehnsucht nach Frieden und Wege dahin).
- Den Anfang machte Stefan Seidel.
- Er stellte wesentliche Thesen seiner neuen Publikation „Entfeindet euch“ vor. Betont wird von ihm, dass Krieg und Frieden in den Köpfen der Menschen beginnen. Meiner Wahrnehmung nach handelte es sich um einen treffenden und angemessenen, aber heute nicht mehr stark innovativen Impuls.
- Im weiteren Diskussionsverlauf kam es zu einer Redephase Seidels, die nicht nur ich alleine als kritisch erlebte. Zu vollziehen schien sich mir tendenziell eine Art Einkapslung des Referenten in seine radikal pazifistische Position, ohne eine differenzierte Sicht auf vorfindliche Gegebenheiten zu werfen. Damit zeigte sich eine besondere Herausforderung seines eigenen Ansatzes. Denn damit das rein friedliche, „entfeindete“ Denken gelingen kann, liegt es verführerisch nahe, quasi gedanklich Abwehrbollwerke zu errichten, um nichts Schädliches eindringen zu lassen. So würde aus einem im Grunde guten Ansatz allzu schnell eine von der Welt entfremdete bzw. isolierte Idealposition.
- Bei undifferenzierten Ausführungen zur überwiegenden Verwendung von Kriegsrhetorik schien Seidel den Kontext seiner Hörerschaft nicht zu beachten. Dies wurde insbesondere von einer Position aus dem Publikum scharf zurückgewiesen.
- Deutlich von der internationalen Diplomaten-Praxis geprägt war der Impuls von Martin Koblers Beitrag. Drei Thesen sind mir besonders in Erinnerung geblieben. Ich würde sie heute folgendermaßen formulieren:
- Man muss sich seinem Gegner immer wieder erneut und beharrlich aufdrängen, um Verhandlungen zu erreichen. Dabei sollte man es in Kauf nehmen, möglicherweise selbst wenig ‚schön‘ zu wirken.
- Man muss im internationalen Dienst Entscheidungen treffen, die richtig sind, auch wenn sie zugleich sehr schmerzen. Kobler stellt dies exemplarisch in den Zusammenhang mit der Frage nach der Anordnung von Kampfeinsätzen der UN-Blauhelmtruppen im Kongo.
- Um Frieden zu ermöglichen, brauchen wir ein starkes internationales Recht und Persönlichkeiten, die es durchsetzen. Die aktuelle Führung der UN entspricht nach Koblers Einschätzung leider einem Gegenbeispiel.
Der Agrarpolitiker und Ernährungsforscher Joachim von Braun brachte in die Diskussion noch einmal neue Sichtweisen und Aspekte ein.
- Er hob die Bedeutung des Einsatzes von Hunger als Waffe hervor.
- Von Braun wies darauf hin, dass ein nach Wirksamkeit strebendes politisches Engagement immer auch dazu herausgefordert ist, an finanzielle Mittel zur Umsetzung zu gelangen. Das gilt für Friedenspolitik nicht minder.
- Von Braun stellte zum Ende seines Impulsreferats auch fest, dass – neben den aktualen gravierenden Konflikten auf dem afrikanischen Kontinent – dort wie weltweit Erfolge bei der Bekämpfung von Hunger erzielt wurden und die Kindersterblichkeit abgenommen hat.
Den offiziellen Schlusspunkt der Veranstaltung setzte am späteren Abend eine „Kleine Orgel-Nacht-Musik“ in der Inselkirche, gespielt von Matthias Trommer (Potsdam).
Für die Teilnehmenden endete die Veranstaltung mit einem zur traditionellen Stunde (um 10 Uhr) beginnenden Gottesdienst am Sonntag.
Ein paar allgemeine Anmerkungen zu meinem persönlichen Eindruck:
Die Veranstaltung war von einem familiären Charme geprägt. Dies lag aus meiner Sicht auch an der hohen Vertrautheit vieler, die seit langem regelmäßig zu diesem alljährlich um Ostern auf dieser Ostseeinsel stattfindende Begegnung kommen. Außerdem gab es keine Formalia wie Wahlen oder das Ableisten von Tagesordnungspflichten.
Wir waren in Gästezimmern gut untergebracht, haben gerade beim leckeren Essen belebende Gespräche mit engagierten Menschen führen können, erlebten frei gesprochene Wortbeiträge zum umtreibenden Thema der Suche nach Frieden von reflektierten Menschen, deren Erfahrungen gerade auch aus jahrelangem Dienst in verantwortlichen Positionen mit internationaler Bedeutung begründet sind. Außerdem gelang es Pastor Dr. Konrad Glöckner wiederholt wesentliche Inhalte treffend aufzunehmen, mit kleiner Wendung zusammenzufassen und noch einmal zur eigenen Reflexion anzubieten.
Diese rein positive Kritik bedeutet nicht, dass es keine Reibungspunkte in den Diskussionen gab und auch nicht, dass ich mit allen Einzelheiten des erlebten Verlaufs formal und inhaltlich komplett einverstanden wäre. Es gab die Möglichkeit, sich auch über die eigenen Widersprüche etwa zu Positionen, die im Rahmen der Podiumsdiskussion vertreten wurden, auszutauschen. So waren Denkimpulse ganz verschiedener Art für mich wirksam.
Es war eine durchweg erfreuliche Begegnungsveranstaltung und Reise, die ich auch bei einem weniger prominenten Vortragsangebot nach Möglichkeit wiederholen möchte.