1. Themenfeld 2024: Materialität und Sinn
Auch innerhalb evangelischer Praktischer Theologie ist in den letzten Jahren mehr und mehr die Bedeutung von Materialität, also vor allem von Dingen und ihren Eigenschaften für das Erleben christlicher Religion entdeckt worden.
Damit rücken nun auch ziemlich übliche Artefakte christlicher Bräuche neu in den Blick. Zur Thematik als wissenschaftliche Lektüre empfohlen sei: Keller, Sonja/Roggenkamp, Antje (Hg.): Die materielle Kultur der Religion. Interdisziplinäre Perspektiven auf Objekte religiöser Bildung und Praxis, Bielefeld 2023.
Der erste Artikel auf dieser umgestalteten Seite wird sich in drei Folgen mit Grabsteinen befassen und von dort aus exemplarisch Persönlichkeiten und Lebenssituationen, über die sie etwas erzählen, vorstellen.
Er erschien erstmalig in der nachfolgend genannten Festschrift zum 65. Geburtstag des Rostocker Professors für Praktische Thomas Klie und wird sich nun zunächst mit einem seiner Vorgänger befassen, der aufgrund seiner theologischen Überzeugung auswandern musste und so nach Riddagshausen bei Braunschweig gelangte.
Erstveröffentlichung: Antje Mickan (2022): Stein und Raum. Ein funerales Kommunikations- und Erinnerungsmedium im Gebrauch. In: Kumlehn, Martina; Kunz, Ralph; Schlag, Thomas (Hg.): Dinge zum Sprechen bringen. Performanz der Materialität. Festschrift für Thomas Klie, Berlin/Boston, S. 193-211.
Stein und Raum
Übersicht
A) Joachim Lütkemann und sein barockes Grabmal
1. Intro
Bis vor kurzem hatte ich ihn nur mal im Vorübergehen betrachtet und mir gar nicht vorstellen können, wie sich die Beziehung noch gestalten würde. Nun rede ich ihn im Geiste schon mit „Joachim“ und „du“ an. Alles begann damit, dass ein in der Familie weitergegebenes Buch mit erbaulichen Schriften bei mir zu Hause ankam.[1] Ich schlug es auf und erblickte auf der zweiten Seite, am unteren Rand einer aufwendigen Kupferstich-Illustration von Johann Georg Bäck[2] das Porträt eines mir bekannt vorkommenden Herrn mit modischem Erscheinungsbild wie aus einem Mantel-und-Degen-Film: Joachim Lütkemann (1608-1655), Generalsuperintendent zu Wolfenbüttel und, wie sich leicht in Erfahrung bringen ließ, nicht nur ehemals Theologie-Professor der Rostocker Universität, sondern später auch Abt des Klosters Riddagshausen.[3]
Hier in der Klosterkirche am östlichen Rand Braunschweigs, an der ich auf alltäglichen Spaziergängen vorbeikomme, musste sich eine erste Begegnung ereignet haben. Meine Neugierde war geweckt und die Suche nach anfänglicher Enttäuschung schließlich doch erfolgreich. Eine zuverlässige Informandin versicherte,[4] dass Lütkemann in der zweiten Kapelle von rechts des östlichen Chorumgangs begraben sei. Seine Grabplatte war allerdings zwischenzeitlich mit Teilen eines Bühnenpodestes zugestellt, die Ausgrabung aber möglich. Etwas schwarz im Gesicht – fast wie schwarz vor Ärger ob der erfahrenen Behandlung – zeigte sich Joachim Lütkemann lebensgroß, plastisch aus dem Stein hervorgehoben in seiner amtlichen Kleidung und Haltung: ein beglückender Moment. Dieser Moment zog weitere Nachforschungen zur Person, Lektüren von Lütkemanns erbaulichen Schriften[5] und – seit die Kapellen des Chorumgangs nicht mehr als Abstellräume genutzt werden – etliche Besuche „bei ihm“ in Riddagshausen nach sich. Zu einer weitergehenden Entzifferung der verwitterten Grabplatten-Schriftgravur habe ich mich noch nicht bemühen können,[6] denn wenn ich dort bin, hänge ich am steinernen Bild, schaue mir die verwitterte Nase an, seine hier ernsten Züge, die Hände mit ihrer Haltung, die Schleifen-Schuhe mit Absätzen. Ist gerade keiner da, beginne ich ein Gespräch über den schönen Garten, zu dem Joachims Fenster gerichtet ist, über seine Ehefrau, wo die wohl begraben liegen mag,[7] über die Rostocker Fakultät und den Wolfenbütteler Herzog August den Jüngeren, der ihn dankenswerterweise hierher berief, wenig bevor man ihm in Mecklenburg wegen theologischer Lehraussagen einen Landesverweis erteilte:[8] Joachim Lütkemann vertrat die Ansicht, dass Christus während seiner drei Tage im Grab kein wahrer Mensch war, denn im Tode trennten sich Leib und Seele, so dass ein Leichnam kein Mensch sei. Dies gelte auch für den wahrhaft toten Christus zwischen Kreuzigung und Auferstehung.[9] Was hätte dieser Professor und Abt zu Lebzeiten nur davon gehalten, dass über dreieinhalb Jahrhunderte nach seinem Tod einmal jemand zu seinem Bildnis redete, als wäre er da? Also lassen wir das Spiel[10] und untersuchen theoretisch, wie es dazu kommen konnte und ob sich daraus etwas über Funktionsweisen und Sinn von Grabsteinen erschließen lässt. Zwar ist unter den Grabsteinen die Platte mit lebensgroßem Halb-Relief einer verstorbenen Person eindeutig eine besondere, heute unübliche Ausführung, die auch in früheren Zeiten nur für Wenige infrage kam.[11] Doch gerade an einem derart reichhaltig ausgestatteten Exemplar mit der Untersuchung zu beginnen, verspricht die Generierung zahlreicher Hypothesen, die auf Eigenschaften und Gebrauchsmöglichkeiten von Grabsteinen im Allgemeinen hinweisen könnten.[12]
2. Auswertung eines Selbstversuchs
Bei der Nutzung der obigen Eingangsszene – sie hat sich abgesehen von einer gewissen Überzeichnung realiter ereignet – als empirisches Material qualitativer Forschung stellt sich als erstes die Frage, wie der ausschlaggebende Impuls beschrieben werden kann, der zur kommunikativen Praktik mit Bezug zum sepulkralen Artefakt führte. Erst im zweiten Schritt wird dann die Grabplatte mit ihrer Situierung detaillierter in den Blick kommen und sich Fragen danach anschließen, welche Gebrauchs- und Kommunikationsangebote aus einer möglichst objektiven Perspektive[13] von diesem Artefakt ausgehen, sowie danach, welche Gebrauchsbedingungen und Sinngebungen durch den Grabort vorstrukturiert werden.
2.1 Raumkonstitution als aktivierender Impuls einer Praktikentwicklung
Das handelnde Subjekt des hier untersuchten Fallbeispiels reagiert nicht auf eine interaktiv erfahrene Anleitung oder Anfrage, sondern aufgrund eines Wiedererkennens und Neuerkennens, das sich bei der erinnernden Relationierung von zwei Abbildern ein und derselben historischen Person ereignete. Es ist daher angemessen von einer Akteurin und ihrer Entwicklung einer schließlich auf das materiale Ding „Grabplatte“ bezogenen Praktik zu sprechen. Anzunehmen ist, dass sie dabei auch auf erlernte Fertigkeiten und Konzepte zurückgreift.[14]
Bei früheren Besuchen in der Klosterkirche Riddagshausen hatte die Akteurin die Grabplatte Lütkemanns zwar wahrgenommen, dieser jedoch weder eine ortsunabhängige Bedeutung beigemessen, noch ein über den Moment der Betrachtung hinausreichendes Interesse an der Person des Abtes gefunden. Das Porträt Lütkemanns im alten Folianten dagegen stand vom ersten Erblicken an in Zusammenhang mit Narrationsfäden, an die die Akteurin anschließen konnte: Das Buch mit dem Porträt und erbaulichen Schriften war ein persönlich weitergegebenes Familienerbstück mit authentischen Worten des Porträtierten. Der historische Mensch Lütkemann wurde schon bei der Buchweitergabe vorgestellt als jemand mit Bezug zu Orten, die der Akteurin vertraut sind. Und es wurde bei ihr eine Erinnerung aktiviert, die besagte, dass sie wohl schon mehr als einmal an der originalen, sich in der erweiterten Nachbarschaft befindenden Grabstelle des Abtes gestanden hatte. Als dann auch noch eine eigene Nachforschung und „Ausgrabung“ erfolgreich war, verstärkte dies wahrscheinlich die Manifestation der Beziehung zur Grabplatte mit ihrem Signifikat „Lütkemann“ noch. Unter Anwendung einer raumtheoretischen Perspektive, die Raum relational als Manifestationsaspekt von Beziehungen versteht,[15] der sich im Wechsel zwischen Positionierungen von etwas zu etwas anderem (Spacing) und dem wahrnehmenden Deuten dieses Zueinander als etwas (Syntheseleistung) konstituiert,[16] zeigt sich die Raumsynthese der Akteurin als ausschlaggebend für ihr Praktizieren. Mit dem Buch und Porträt, der Grabstelle, deren Umgebung und dem Spazierweg dorthin als wesentlichen Elementen synthetisiert sie einen Raum, der insgesamt für einen spezifischen Erzählzusammenhang steht und in dem sie agieren kann. Speziell seit der erfolgreichen Grabpatten-Wiederentdeckung ist dieser Raum mit positiven Emotionen verbunden, welche die Erinnerungen färben. Durch die vorgenommene Verknüpfung bilden die Raumeinrichtungselemente in der Wahrnehmung der Akteurin Erinnerungsmedien füreinander. Das Sehen des Buches mit Lütkemanns „Aufmunterungen“ zu Hause auf dem Tisch löst also ein mentales Bild der Grabstelle aus, die über einen schönen Spazierweg leicht zu erreichen ist. Die wiederum hat durch ihre originale Relation zu Lütkemann in diesem Raum eine herausragende Bedeutung und soll nun näher vorgestellt werden.
2.2 Die Grabplatte von Joachim Lütkemann in der Klosterkirche Riddagshausen
Die Steinplatte mit dem lebensgroßen Abbild von Lütkemann befindet sich noch immer über der Stelle, wo der Abt 1655 bestattet wurde,[17] mittig in einer Kapelle an der Ostseite der Klosterkirche mit dem Haupt nach Osten ausgerichtet.[18] Wie der letzte Satz der lateinischen Inschrift mitteilt, ließ Lütkemanns Witwe Dorothea Lewezowen das Grabmal errichten.[19] Es ist aus hellem Kalkstein gefertigt, hat eine Länge von 2,40 m und Breite von 1,18 m. Seine Sockelhöhe von 9 cm zusammen mit der plastischen Gestalt des Abbilds halten Besucherinnen und Besucher von selbst vor dem Betreten zurück.[20] Die Gesichtszüge, Haar und Barttracht des Abtes sind so ausdrucksstark herausgearbeitet, dass sie sich leicht einprägen und ein Wiedererkennen auf einem Porträt ermöglichen. Kragen, geknöpftes Untergewand und Talar sind detailliert ausgeführt, bis hin zur Wiedergabe von Stickereimustern. Ähnliches gilt für die Schuhe. Eher schwach zu erkennen ist das Scheitelkäppchen. Die dargestellte Handhaltung gleicht derjenigen auf dem Kupferstich-Porträt von Bäck (Abb.1): Die Hände liegen leicht nach innen gewölbt aneinander, wobei der Zeigefinger der rechten Hand ausgestreckt auf der linken Hand zwischen dortigem Daumen und Zeigefinger ruht und der rechte Daumen leicht nach oben gerichtet ist. Dies wirkt wie eine Geste der Kontemplation oder auch des Haltens einer Schreibfeder. Der obere Korpus wird derart von einer Rundbogennische gerahmt, dass Lütkemann vor einem Torbogen zu stehen scheint, als sei er gerade ins himmlische Jerusalem eingetreten. Oberhalb dieses Bogens zieren zwei Wappen[21] die Grabplatte, wie es auch auf den sich rechts und links von Lütkemanns Grab in derselben Kapelle befindenden, ebenerdigen Grabplatten der Fall ist. – Die rechte trägt eine großflächige Inschrift mit dem Zitat von Hiob 19,25-27,[22] die linke in ähnlicher Gestaltung die Verse Röm 14,7-9. – Zumal die zwischen 1216 und 1275 angelegte Zisterzienserkirche St. Mariae[23] trotz ihrer auch touristischen Bedeutung nicht als Museum fungiert,[24] sondern im Wesentlichen für den Gottesdienst und Kirchenmusik in Gebrauch ist,[25] sind keine Informationsschilder an den Gräbern angebracht, was sie als Ausstellungsstücke etikettiert hätte.
Außerhalb von Veranstaltungen steht die Kirche täglich von 10–16 Uhr für Besichtigungen und private Andacht offen. Sie ist von einem Park und Garten mit Obst- und Gemüseanbau umgeben, der im Osten von der alten Klostermauer begrenzt ist und zum Verweilen einlädt. Die Artefakte, die an diesem Ort begegnen, zeugen von verschiedenen Jahrhunderten und sind zugleich Teil einer aktiv gestalteten (Religions)Kultur der Gegenwart, deren Horizont durch sie gleichsam eine material-greifbare Erweiterung in Richtung Vergangenheit erfährt.[26] Bei einem Rundgang durch die Kirche zeigt sich so auch Lütkemanns Grabmal als Verkörperung der über Jahrhunderte fortgesetzten Bedeutung des Ortes und der hier situierten religionskulturellen Praxis. Seine Gestalt ist im Hier und Jetzt zu erfahren.[27] Sie vermittelt den Eindruck eines gelehrten protestantischen Geistlichen mit Macht über das Geschehen in der zum Ort gehörenden Gemeinschaft,[28] hebt sich in ihrer Randlage dezent aus dem Ensemble der inneren Kirchenarchitektur hervor und steht dabei zur dieser doch in gewisser Spannung. Denn die Form des Gemäuers folgt Leitgedanken der Zisterzienser sowie einem Bedarf mönchischer Praktiken,[29] die durch das aus dem Boden hervorgehobene Artefakt gestört wäre.[30] Der reformatorische Traditionsbruch und die Machtübernahme evangelischer Theologie spiegeln sich also auch an diesem Kirchengrab wider.[31] Andererseits werden die Kapellen im östlichen Chorumgang heute durch den 1735 gestifteten Hochaltar[32] vom Kirchenhauptschiff großflächig abgeschirmt, so dass auch die Grabplatte Lütkemanns in einen Schattenbereich geraten ist, dessen vorübergehende Nutzung als Abstellraum immerhin Plausibilität besitzt. Dagegen war der aus Elmkalkstein gefertigte Taufstein im westlichen Hauptschiff der Kirche mit seinem reich verzierten Gitter und Baldachin aus Lindenholz ebenso wie die kunstvolle Kanzel, deren Fuß die Figur des Mose mit Gesetzestafeln bildet und dessen Schalldeckel der auferstandene Christus krönt, schon zu Lütkemanns Lebzeiten Teil der Kircheneinrichtung.[33] Er wird diese Artefakte also mit großer Sicherheit in Gebrauch genommen haben. Beispielsweise im Zusammenhang mit einer Kirchenführung bzw. kirchenpädagogischen Arbeit könnte auch auf diesen Umstand hingewiesen und so den Raumsynthesen der Besucherinnen und Besucher weitere Möglichkeiten hinzugefügt werden.
Fragt man sich, welche Wirklichkeit durch die Grabplastik an diesem Ort zur Aufführung kommt, so tritt zuerst der Abt selbst auf die imaginierte Bühne, tut dies allerdings in Liegeposition. Es scheint, dass er sich in der Kapelle zur Ruhe begeben hat und nun – zusammen mit den in seiner Nähe bestatteten Kollegen – mit etwas Abstand Anteil am Geschehen an seiner ehemaligen Wirkungsstätte nimmt. Doch, gerade wenn die Morgensonne durch das Kapellenfenster auf das steinerne Haupt fällt, spannt sich zeichenhaft eine Relation zwischen himmlischem und irdischem Sein auf und aktiviert bei der Betrachtung Überlegungen zur transzendenten Existenz des Abgebildeten bei Gott. Die Grabplatte erscheint dann mehr als ein Erinnerungsmedium, das durch seine Inschrift eindeutig auf eine verstorbene Person verweist. Die aber ist für die Betrachterin eben stärker bildlich und mit Gesichtszügen präsent, erscheint also als ein „Ich“, das die korrespondierende Anrede mit „du“ provoziert.[34] Das Artefakt überliefert uns heutigen Menschen eine Mitteilung, auch wenn keine besonderen religionskulturellen Codes etwa über Kleidung, Wappen oder Bedeutung der Inschrift bekannt sind, wenigstens der schlichten Art wie: „Ich war da, wo du jetzt bist. Bedenke deine Sterblichkeit.“ Im Grabzeichen kommen Vergangenheit und Präsenz zusammen zum Ausdruck. Die Altersspuren am Artefakt können eine reflexive Distanz bei der Wahrnehmung verstärken. Neben dadurch hervorgerufenen Fragen zum Umgang mit diesem historischen Zeugnis – zum Beispiel danach, ob Anfassen erlaubt ist – geben sie Anlass zu einem vergleichenden Nachdenken über die Welt des Ichs „Joachim Lütkemann“ in einer durch den Dreißigjährigen Krieg geprägten Zeit und der gegenwärtigen Wirklichkeit. Außerdem zeigt sich die Bedeutung der Grabplatte als ein Bindeglied zwischen den Zeiten und Welten, das in christlicher, durch den Ort repräsentierter Deutung auf die Gemeinschaft von Lebenden und Toten hinweist.
Was bei der Betrachtung der Grabplatte im Einzelfall tatsächlich anspricht, ist wie jede Raumsynthese und jedes Aufführungserlebnis von den subjektiven Erinnerungen, Sichtweisen und Prägungen abhängig.[35] Wer etwa eine Aversion gegen Amtsträger besitzt wird sich beim Erblicken des steinernen Talars vielleicht gleich wieder abwenden und das Bildnis so nicht zur Sprache kommen lassen. Ganz anders könnte das mit einer Vielzahl von Knöpfen dargestellte Untergewand bei an Pastoralmode Interessierten eine faszinierende Wirkung hervorrufen.[36] Die Akteurin des obigen Fallbeispiels bringt nun bereits ein Ensemble an Gedanken, Erinnerungen und Fragen mit Anschluss zu einer Bedeutungseinheit „Joachim Lütkemann“ mit zum Grabmal. Hier zeigt sich die von Thorsten Benkel herausgearbeitete Funktion des Grabes als zweitem Körper der Verstorbenen in ganz eigener Darstellung.[37] Die Grabplatte mit Lütkemanns plastischer Gestalt wird von der Akteurin als ein solcher zweiter Körper angesprochen und in Gebrauch genommen. Die Situierung in der Klosterkirche ermöglicht einen freien Zugang wie auch Momente der Ungestörtheit. So kann sich in spielerischer Weise und Wirklichkeit für die Grabbesucherin ein Gespräch entfalten, in dem sie dem Objekt etwas erzählt oder Fragen stellt. Entdeckt sie beim gleichzeitigen Betrachten des alten Bildnisses Einzelheiten neu, könnte dies als Resonanz des Gegenübers gedeutet werden. Die Akteurin mag sich dabei vergegenwärtigen, dass sie Themen und Orte mit jemandem teilt, der genau hier vor Jahrhunderten lebte, und sich dabei in einem sozialen Kontinuum verortet sehen. Hier in der Klosterkirchenkapelle mit dem Fenster zum schönen Garten vermittelt diese spielerische Praktik eine andere Form von Gegenwärtigkeit, von ernster Wirklichkeit als es beim Gebrauch einer alten Ausgabe mit Schriften Lütkemanns oder mit einem Porträt für ähnliche Kommunikation möglich wäre. Die fokussierte Akteurin befindet sich jenseits von Trauer. Sie betreibt aber, wie es für Trauernde von Bedeutung ist, eine identitätsbezogene Praktik. Sie entdeckt Gemeinsamkeiten und Anschlussmöglichkeiten zu vergangenen Existenzen, kann sich vorübergehend mit diesen identifizieren und kann sich beim prospektiven Ausblick versichern, dass es nach ihr genau hier noch Menschen geben wird, die dem eigenen Leben nicht völlig fremd sein werden.
Fortsetzung
Im nächsten Teil steht mit Johann Wilhelm Mannhardt (1760-1831) ein Theologe, der im 19. Jahrundert durch sein soziales Engagement hervortrat und einen Geschlechterfriedhof gründete, im Mittelpunkt.
B) Vergleichsartefakte und Persönlichkeiten aus dem 19. sowie 21. Jahrhundert
Bisher war ein barockes Grabmal an einem Ort im Blick, der nicht eigens für Bestattungen geschaffen wurde, an dem also ein Fehlen von funeralen Artefakten lediglich eine gewisse Reduktion seines praktisch erfahrbaren Bedeutungsspektrums, keinesfalls aber eine merkliche Einbuße seiner Funktionalität darstellte. Eine für Grabsteine übliche Positionierung auf einem Friedhof kennzeichnet daher die Objekte aus unterschiedlichen Jahrhunderten, auf die sich die Aufmerksamkeit nun ergänzend richten wird, um einen Vergleich zu ermöglichen. Es wurden zwei Exemplare ausgewählt, die mit der Grabplatte Lütkemanns ihr steinernes Material, die Inschrift mit Namen und Daten Verstorbener sowie die Prägung des Ortes durch (evangelisch-)christliche Religionskultur gemein haben.
3.1 Der Grabstein von Wilhelm Mannhardt auf dem Hanerauer Waldfriedhof
Wer den Ort Hanerau-Hademarschen auf einer Tour zur Nordsee jenseits der Autobahnen durchquert oder hier im ländlichen Raum zwischen Itzehoe und Heide Erholung sucht, kann dabei auf ein Hinweisschild zu einer Statue Theodor Storms (1817–1888) aufmerksam werden. Dem Wegweiser folgend gelangt man zu einer Waldlichtung, wo sich die Bronzestatue des norddeutschen Dichters befindet und die zugleich den östlichen Zugang zum Hanerauer Waldfriedhof darstellt. Storm, der seine letzten acht Lebensjahre in Hanerau-Hademarschen verbrachte, soll seine Gäste auf Spaziergängen gerne zu dieser Stelle geführt haben, wo sie überrascht den Friedhof entdeckten.[1] Dieser von Laubbäumen umgebene Bestattungsort vermittelt auf den ersten Blick einen Eindruck der Ruhe, schlichter Ordnung und freundlich-liebevoller Zuwendung. Es sind ausschließlich Einzelgräber vorhanden, alle mit einem liegenden Grabmal gleicher Größe aus Sandstein oder Marmor, auf dem in stilvoll geschwungener Kursivschrift Name, Lebensdaten mit Ortsangaben, teils die Profession und oft eine Bibelversangabe eingraviert sind. Alle Gräber liegen so in Ost-West-Richtung, dass die Morgensonne auf die meist leicht angekippten Steine fällt. Sie wirken daher wie Kopfkissen der nach Osten blickenden Verstorbenen. An den „Kopfenden“ stehen Lebensbäume, die alle auf etwa die gleiche Höhe (ca. 1,5 m) gestutzt wurden. Die Gräber sind fast durchweg grün bewachsen und an den „Fußenden“ sind – beim Besuch Ende Oktober – vor allem Heidekräuter oder Begonien gepflanzt. Die schmalen Wege zwischen den Gräbern erscheinen frisch geharkt. Am Westzugang des Friedhofes fällt ein grünes Holztor auf. Es trägt von dieser Seite aus gesehen die auf pietistische Frömmigkeit hindeutende Aufschrift „Selig sind, die in dem Herrn sterben. Sie ruhen von ihrer Arbeit“. Von Westen kommend ist zu lesen: „Trachtet nach dem, was droben ist“.[2] Fünf Kreuze weisen oben auf dem Tor in diese Richtung. Die Gleichheit der Menschen im Tode, die der Theologe, Gutsbesitzer, Manufakturbetreiber und Gründer des Ortes Hanerau, Johann Wilhelm Mannhardt (1760–1831)[3] hier wie bei seinem Vorbild, dem Herrnhuter Friedhof in Christiansfeld, versinnbildlichen wollte, als er in seinem öffentlich zugänglichen Gutspark 1805 den Waldfriedhof anlegte,[4] ist noch heute dank strikter Gestaltungsvorschrift erkennbar.[5] Die getrennten Grabfelder für Männer und Frauen bewirken, dass auch verwandtschaftliche Bindungen gelöst sind und die Gutsbesitzerin neben der Bediensteten ihr Grab erhalten kann.[6] Auch aktual dient die Einrichtung vor allem den Nachfahren von Johann Wilhelm und Anna Mannhardt sowie der Hanerauer Bevölkerung als Bestattungsort.[7] Die Grabsteine bilden daher ein Ensemble, das insgesamt mit Familien- und Lokalgeschichte imprägniert erscheint.
Ein Grabstein fiel bei der Ortsbesichtigung allerdings besonders auf. Es handelt sich um das für Wilhelm Mannhardt aus weißem Marmor gefertigte Exemplar. Unter dem Namen sind in schwarzer Schrift die folgenden Daten eingraviert: „geboren in Altona den 29. Januar 1800, entschlafen den 30. Dezb. 1890. 1. Corinth. 13 V. 8, 13“. Die Steinkante rechts oben ist leicht abgebrochen und der letzte Buchstabe des Nachnamens in diese Bruchstelle hinein nachgezeichnet – ein sicheres Indiz für die jüngere Restaurierung der Schriftzüge. Einzelne grüne Stellen deuten auf widerständige Reste eines Moos- und Algenbewuchses hin, der sich beim Putzen offenbar nicht entfernen ließ. Der Stein liegt in einem Bett aus den Blättern von Waldsteinien (Golderdbeeren). Er hat wie alle anderen Grabmale an diesem Ort die Maße 58 x 43 x 12 cm. Und auch auf allen weiteren Exemplaren ist vom „entschlafen“ der benannten Personen die Rede.[1] Etliche ältere Grabzeichen sind an der aus Felssteinen gesetzten niedrigen Mauer rechts (Frauen) und links (Männer) vom Friedhofstor aufgestellt. Sie bilden so eine Art Ahnengalerie, die sich jedoch nicht über die Nachfahren erhebt, sondern zeichenhaft das unten an den Seiten des Himmelstores wachsende Band der Wartenden verkörpert. Wilhelm Mannhardts Stein aber wurde aufgearbeitet und am Grab belassen. Wie bei einer Internetrecherche zu ermitteln ist, machte er sich besonders dadurch verdient, dass er mit dem Anlegen einer Landesbaumschule, also Begründung eines Waldes südlich von Hanerau dem in der Region lange betriebenen Raubbau entgegenwirkte.[2]. Bereits seinem Vater Johann Wilhelm Mannhardt ging es um einen sozialen Einsatz der Begüterten für die Menschen vor Ort.[3] In einer Zeit, wo andere Adelige und Landbesitzer den eigenen Wald als abgegrenzten Bestattungsort entdeckten, um sich dort Grabmonumente zu errichten,[4] schafft er einen bewusst bescheiden gehaltenen Friedhof in seinem Wilhelmshain nicht nur für eigene Nachfahren, sondern auch für die Arbeiterinnen und Arbeiter des Dorfes Hanerau. Die Ausrichtung christlicher Frömmigkeit auf nachhaltiges Wirtschaften und soziale Fürsorge kommt hier stärker zum Ausdruck als eine mit Waldfriedhöfen oft verbundene Naturfrömmigkeit.[5] Die Grabsteine sind von größerer Härte und Dauer als Holz, wenngleich mit den Jahren nicht ohne Verwitterungsspuren. Sie versinnbildlichen hier den Platz der „Entschlafenen“, wo diese bis zu Ihrer endzeitlichen Auferweckung ruhen, still besucht und umsorgt werden können, beispielsweise indem man ihre Steine pflegt, die Grabumgebung instand hält oder auch ihre Lebensgeschichten tradiert. Erzählt man beispielsweise Spaziergängern im Mannhardt-Wald von dessen Begründer und fragt sich, wo der jetzt sein könnte, müsste die Antwort lauten: Er liegt in einem grünen Bett, hat ein schimmernd weißes Angesicht und erholt sich von seinen Lebensmühen.
Es ist vor allem das Miteinander der funeralen Artefakte in ihrer schlicht-schönen und gleichartigen Gestaltung, die dem Ort seine Anmutung verleiht. Mit der Theodor-Storm-Statue am Ostzugang ist er mit einem Kranz von Narrationen verknüpft, den dieser Dichter schuf. Zumal Theodor Storm und Wilhelm Mannhardt sich in ihren letzten Lebensjahren mit Sicherheit kannten, stehen Plastik und Grabstein der beiden für Einheimische möglicherweise in einer besonderen Beziehung. Und wer diesen Ort kennt und zu Hause eine Storm-Ausgabe in die Hand nimmt, erinnert sich dann vielleicht auch an den Hanerauer Waldfriedhof, wobei die Gemeinschaft der hier Bestatteten in der einen oder anderen Weise dabei präsent sein wird.
3.2 Würfelstein eines Urnengrabes auf dem Braunschweiger Hauptfriedhof
Der in diesem Beitrag zuletzt beobachtete Stein kennzeichnet ein Urnengrab des Braunschweiger Hauptfriedhofs. Er ist Teil eines Ensembles von vier gleichgestalteten, im Carré mit etwa zwei Metern Abstand angeordneten würfelförmigen Grabmalen aus hellem Sandstein auf einer Rasenfläche, wo sich auch andere, größere Ensembles von ähnlichen Grabmalen befinden. Der Stein hat eine Länge und Breite von je 40 cm sowie eine Höhe von 30 cm. Seine Oberseite ist schwach gewölbt. Am Boden ist er ebenerdig von 10 cm breiten Sockelplatten eingerahmt, die unter einem Bewuchs mit Moos, Grashalmen und Flechten nur noch beim genauen Hinsehen zu erkennen sind. Unter dem Namen in Blockschrift eingravierte Jahreszahlen lassen erkennen, dass die hier beigesetzte Urne zu einem Menschen gehört, der – bezogen auf den Zeitpunkt der Betrachtung – vor 13 Jahren starb. Obwohl es sich um eine Grabart mit Möglichkeit der Mehrfachbelegung handelt, sind an diesem Stein keine weiteren Namen zu erkennen. Ein dickes Moospolster auf der Steinoberseite, das eine mittig gelegene kahle Stelle umgibt, zeigt an, dass lange Zeit eine Pflanzschale dort aufgestellt war, wie es auf diesem Friedhof zu den üblichen Praktiken gehört. Nun wurde die Schale entfernt. Neben dem Stein ist eine Topfpflanze ohne Topf, mit loser Wurzelerde auf der Seite liegend zu sehen. Sie könnte dort vergessen schon ein paar Tage liegen. Bei der Betrachtung wirkt dieser Stein wie ein Spiegel der fließenden Veränderung von Trauer und Andenken. Vielleicht wuchsen, während das Moos auf diesem Artefakt im Schatten der Schale gedieh, parallel Lücken im Leben der Angehörigen zu, die der Tod hinterlassen hatte. Nun liegt die topflose Pflanze neben dem Stein wie ein Tropfen alter Trauer, der noch lose am verlorenen Menschen hängt, bald unbemerkt eingetrocknet und abgeräumt sein mag. Mindestens sieben Jahre lang wird aber der Stein noch an seiner Stelle bleiben und ein festes Angebot zum Gedenken darstellen.[1] Und er bildet so ein Zeugnis nicht nur für vergangene personale Identität der Toten, sondern auch für einen verlorenen Anteil der Identität der Lebenden, die durch den nun verstorbenen Menschen konstituiert wurde. Zu Trauern bedeutet ja auch auf dem Weg des Abschieds an der eigenen Identität Umbildungsarbeit zu leisten.[2] Und ebenso wie die Erinnerung an nur wenige Menschen vom kommunikativen Gedächtnis ins kulturelle Gedächtnis übergeht, so bleiben auch nur wenige Grabsteine stehen. Sie beginnen von Moos und Flechten zugedeckt zu werden, werden irgendwann von der Friedhofsverwaltung abgeräumt und dienen später in zertrümmerten Zustand als Bestandteile von Straßen und Gebäuden, in anonymen Kleinstteilen also, als tragende Elemente der gebauten Gesellschaft.
[1] Die Ruhefrist für Urnengräber Erwachsener beträgt laut § 10 der betr. Friedhofsordnung 20 Jahre mit anschließender Möglichkeit der Verlängerung.
[2] Vgl. G. Schmied, Friedhofsgespräche, 72.
4. Schlussfolgerungen: Was Grabsteine können
Grabsteine dokumentieren Wirklichkeit von Verstorbenen und lassen diese greifbar werden, so dass auf sie bezogene Praktiken die Unfassbarkeit des Todes überwinden helfen. Der Ort von Grabsteinen gleicht einer Bühne, einer Surplus Reality, wo Grabsteinen Charakterrollen zugeschrieben werden, die sie durch ihre Erscheinung und Materialität ein Stück weit selbst bestimmen. Dass sie bei diesem Spiel auf ein Gegenüber angewiesen sind, streicht ihre unbedingt soziale Bedeutung heraus. Wie andere Grabzeichen auch geben Grabsteine Anlass, nach den Lebensgeschichten der Verstorbenen zu fragen. Sie lassen sich pflegen und erhalten, ermöglichen also die besondere Würdigung von Persönlichkeiten und den von ihnen vertretenen Konzepten.
Als Steine stehen sie dem schnellen Fluss der Zeit ein Stück weit widerständig im Weg und bieten sich zum Wiedererinnern an. Sie lassen sich aber auch still abräumen und weiterverwenden. Christlich gesehen erinnern Grabsteine an die Gemeinschaft von Lebenden und Verstorbenen, was besonders an Orten deutlich wird, die einen direkten Bezug zu Gottesdienstfeiern aufweisen. Grabsteine sind aktivierbar. Sie können durch den Bezug zu anderen Erinnerungsmedien konstitutives Element von Räumen werden, die mit Narrationen, Bedeutungen und Sinnkonzepten imprägniert sind und so spezifische religiöse oder existentiell bedeutsame Praktiken ein Stück weit ermöglichen. Grabsteine treten in ihrer materialen Umgebung mit anderen Dingen als Ensemble in Beziehung und performieren so unter Mitwirkung der anwesenden Subjekte eine Wirklichkeit der Toten über den Tod hinaus. Sie geben Anlass zu Spekulationen und Reflexionen über Leben, Tod und Glaubenskonzepte.
Grabsteine ermöglichen die zeichenhafte Einrichtung von idealen Gesellschaften und paradiesischen Landschaften mit dem Abbild einer Bevölkerung. Und sie treten heute in einer großen Vielgestalt auf, die bis hin zur Virtualität reicht. Mag auch das himmlische Paradies eines Joachim Lütkemann oder Johann Wilhelm Mannhardt für den spätmodernen Menschen verloren sein, ermöglichen die vieldimensionalen Raumvorstellungen von heute doch auch wieder neue Jenseitsvorstellungen, begleitet von der Hoffnung, dass die von Grabsteinen verkörperte Ewigkeit des Lebens dort wahr sein möge.
Antje Martina Mickan